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Siegfried Kühl in seinem Pankower Atelier.

©  Thilo Rückeis

Urgestein der Berliner Kunstszene: Siegfried Kühl: Der Naturpuzzler

Mit seinen 85 Jahren geht Siegfried Kühl immer noch ins Atelier und arbeitet an seinen Gemälden und Collagen. Bei den Expressionisten lernte er malen, mit Hannah Höch befreundete er sich. Ein Besuch in seinem Pankower Atelier.

Milch und Zucker sind drin. Er will den Kaffee dieses Mal ja trinken und nicht mit ihm zeichnen. Im Café bestellt er ihn immer schwarz. Sonst würden die Seiten seines Skizzenbuchs zusammenkleben. Siegfried Kühl aquarelliert mit dem Heißgetränk seine Mitmenschen. „Meine neue Marotte“, sagt der 85-Jährige. Mit seinem gewaltigen Oeuvre im Rücken könnte er sich eigentlich gemütlich ausruhen. Tut er aber nicht. Siegfried Kühl ist ein Urgestein der Berliner Kunstszene, sein zeichnerisches Werk zurzeit in der Rathaus-Galerie Reinickendorf zu sehen.

Siegfried Kühl also rührt den Zucker und die Milch in seine Tasse. Er sitzt mit seinem Sohn im gemeinsamen Atelier, im Steinmetzhof in Weißensee, das er selbst nur noch selten besucht. Lieber zeichnet er zu Hause in Konradshöhe. Das Studio ist jetzt vor allem Ausstellungsfläche und Lager. Hinter breiten Türen stapeln sich mehr als 500 Ölgemälde und Collagen, dazu kommen zahlreiche Objekte.

Dicht an dicht lehnen die Bilder aneinander, und man kann erkennen, wie Kühl die Rückseiten beschrieben hat. Er hat festgehalten, wann er gemalt hat und wie viele Stunden. „8. März – Endlich fertig“. Oft klebt auch ein Zeitungsausschnitt hintendrauf, „Die zehn wichtigsten Fragen zum Euro“. Oder ein Enthüllungsbericht zu Harald Juhnke.

Siegfried Kühls Themen sind universeller Natur

Eigentlich ist Siegfried Kühl keiner, der sich dem aktuellen Tagesgeschehen widmet. Seine Themen auf den Vorderseiten der Leinwände sind universeller Natur. Der Tod und die Vergänglichkeit sind herauszulesen, Menschenumrisse, Soldaten, Geister und mythologische Gestalten scheinen auf. Wie passt das zusammen? Kühl geht aufmerksam durchs Leben. Ebenso bemerkenswert, wie er die Beschaffenheit von Fundstücken findet, die er auf seinen Spaziergängen aufliest, bannt oder amüsiert ihn auch eine ins Auge gefallene Schlagzeile.

In sein Skizzenbuch, in das er die Senioren vom Tegeler Café Kult zeichnet, hat er vorne hineingeschrieben: „Unser täglich Bild gib uns heute und vergib uns unsere Unfähigkeit, diese Welt nicht genauer wahrnehmen zu können.“ Auch seinen Schülern wollte er das mitgeben, das Sehen. „Dass sie nicht blind durch die Gegend laufen“, sagt Kühl, selbst einst Meisterschüler des Expressionisten Georg Tappert. Vierzig Jahre lang, von 1952 bis 1992, war er Kunsterzieher auf der reformpädagogischen Schulfarm-Insel Scharfenberg im Tegeler See. Als Lehrer hat er hunderte Schüler geprägt, ist mit ihnen für Studien hinaus aus dem Klassenzimmer gegangen, hat ihnen Thomas Mann vorgelesen, während sie mit anatomischen Skizzen beschäftigt waren.

Die Insel war sein Glück

Wenn um 13 Uhr im Internat Scharfenberg der Unterricht zu Ende ging, legte sich Siegfried Kühl nach einem schnellen Mittagessen für fünf Minuten zu einem Nickerchen hin. Danach war er bereit für seine eigene Arbeit. Bis in die Nacht hinein stand er in seinem Atelier. Die Insel war sein Glück, denn sie schwemmte ihm sein Material auf ganz natürliche Weise an: Hölzer von verwitterten Stegen und untergegangenen Booten. Die Flügel seines acht Meter hohen „Archaischen Erz-Engels“ am Großen Malchsee, eine Hommage an die Dadaistin Hannah Höch, besteht aus den beiden Seiten eines Schiffsrumpfs, die Kühl in Bronze hat gießen lassen. Oft haben ihm Gutmeinende Schrott vorbeigebracht, doch selten nahm ihn der Künstler an. „Ich konnte ihn meist nicht gebrauchen“, sagt er. Denn so funktioniert seine Kunst nicht. Er selbst muss sie entdecken.

Meist war Kühl mit Rad und Rucksack zu seinem Atelier unterwegs. Dabei fiel ihm allerlei zu: Dachpappen, Spraydosen, Arbeitshandschuhe, Teile von Auspuffrohren. Den Sommer verbrachte er seit 1970 jedes Jahr auf Korsika. An der Solenzara schlug er sein „Fluss-Atelier“ auf, wie er es nennt. Vier Zentner schwere Gesteinsbrocken wuchtete der Künstler dort zu mannshohen Figuren auf, schuf Mobiles aus großes Flusskieseln und Baumstämmen. Häufig wurde er darin von Schülern unterstützt, die offensichtlich Lust hatten, den Lehrer auch in ihren Ferien zu sehen. „Ich habe schon im Wasser gesehen, dass dieses Treibholz dort und dort in meine Arbeit passen würde“, sagt Kühl, der Naturpuzzler.

Verrußt, geschwärzt, verkohlt

In seinem produktiven Leben ist der gebürtige Berliner vielen Künstlern und Galeristen begegnet. Regelmäßig stellte er in der legendären Charlottenburger Galerie Bremer aus, war Beiratsvorsitzender des Senats für alle Kunsterzieher Berlins, Mitglied der Ankaufskommission der Berlinischen Galerie und 1968 Mitbegründer der Graphothek, der ersten ihrer Art in Deutschland. Hier kann man sich noch heute Originale von Georg Baselitz, Rupprecht Geiger, Andy Warhol für die eigenen vier Wände ausleihen. Kühls eigene Collagen, Zeichnungen und Objekte sind oft düster und bedrohlich durch ihre verrußte Schwärze verkohlter Hölzer und das geronnene Rot der rostigen Blechbüchsen. Dabei ist der naturverbundene Künstler selbst ein ausgesprochen heiterer Mensch. Erlebnisse, die Jahrzehnte zurückliegen, erzählt er mit großer Lebendigkeit und Detailreichtum.

Man spürt, dass Siegfried Kühl sein Gegenüber unterhalten möchte. Aber wahrscheinlich haben ihn die Dämonen nicht losgelassen, die ihm als Jugendlichem begegneten. Mit 15 Jahren ist er von der Schulbank weg an die Ostfront geschickt worden, Ende 1944, Anfang 1945. Als er wieder nach Hause kam, lagen die toten Pferde mit ihren aufgeblähten Gedärmen am Straßenrand, gefallene Soldaten säumten die Wege von Pankow. Die Stadt war eine Ruine. Immer wieder hat Siegfried Kühl Totenschädel gemalt, einen nach dem anderen seiner Serie „Caput Mortuum“ beigefügt.

Zum Kuchenessen bei Hannah Höch

Mit seiner Vorgehensweise des Schichtens und Zusammenfügens von vermeintlich wertlosem Material hat man dem Künstler oft eine Nähe zum Dadaismus bescheinigt, die er selbst zunächst gar nicht beabsichtigt hatte. Ende der vierziger Jahre lernt Siegfried Kühl die Ur-Mutter des Dadaismus, die Künstlerin Hannah Höch, kennen. Später wird er ihr Nachbar in Heiligensee, die beiden schließen Freundschaft. Der junge Künstler kommt zum Kuchenessen, während die flotte Dada-Dame von Kurt Schwitters und all den anderen damaligen Mitstreitern Geschichten erzählt. Oder sie drehen gemeinsam Runden auf dem Eis des Heiligensees. Beide waren gute Schlittschuhläufer. Im Atelier in Weißensee hängt das Werk „Marionette“. Es ist eine menschliche Gestalt mit einer Stuhllehne als Korpus, bekrönt ist sie von einer Klingel. Die gehörte einst Hannah Höch, der großen Puppenmacherin. Bei ihr gab es zum Kaffee immer auch einen Sherry. Halbtrocken.

Rathaus-Galerie Reinickendorf, Eichborndamm 215–239, bis 29. 8.; Mo–Fr 9–18 Uhr.

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