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Kultur: Berliner Versorgungsgeschichte: Ja, die Fleischfabrik, die produziert gesund

Es gibt kulturelle Muster, die überraschenderweise alle Zeiten überdauern. Zum Beispiel der Ein-Hand-Berliner: dieser Zeitgenosse, der, egal wo er geht oder steht, nur eine Hand frei hat, weil der zweite Greifer fest verwachsen scheint mit einer Bierdose.

Es gibt kulturelle Muster, die überraschenderweise alle Zeiten überdauern. Zum Beispiel der Ein-Hand-Berliner: dieser Zeitgenosse, der, egal wo er geht oder steht, nur eine Hand frei hat, weil der zweite Greifer fest verwachsen scheint mit einer Bierdose. Er ist kein Geschöpf der modernen Trash-Kultur, sondern wurzelt tief im preußischen Urgrund Berlins. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jh. gab es gläserne Trinkflaschen für den Unterwegs-Gebrauch mit integrierten Griffen, Henkeln und Verschlüssen. Daraus trank der Berliner Proletarier Schnaps, billigen Kartoffel-Brannt. Bei abenteuerlichen 52 Liter lag der Pro-Kopf-Verbrauch um 1840, doppelt so hoch wie im sonstigen Preußen, dreimal so hoch wie in der Provinz Westfalen. Ein Indiz dafür, dass in Preußen mit der Agrarreform auch die Kartoffel durchgesetzt war, aber auch für die Misere in der werdenden Großstadt Berlin.

Mit solch drastischen Beispielen konterkariert die Stadtmuseums-Ausstellung "Berlin - ein riesiger Bauch" im Freilichtmuseum Domäne Dahlem das biedermeierliche Alt-Berlin-Klischee und die Plattitüde von der "Kartoffel sei Dank"-Großmacht. Im Spiegel der Lebensmittelversorgung Berlins veranschaulicht sie über Alltagsgerät und Bilder, wie zäh und widersprüchlich die Transformation der feudalen Agrar- in eine Industrie-Gesellschaft verlief. Begonnen hatte der Prozess mit einem Paukenschlag. Die Agrarreform - sie wird in einer Parallel-Ausstellung behandelt - beendet das Mittelalter auf dem Land, eingeleitet mit dem Oktober-Edikt von 1807. Preußen reagiert so nicht allein auf seine prekären Finanzsituation nach der Niederlage gegen Napoleon, sondern kanalisiert den politischen Druck von "unten" mit einer "Revolution von oben". Aus der Revolutionsprophylaxe wurde ein grandioser Wirtschaftserfolg. Aufhebung der feudalen Abhängigkeit, bäuerlicher Landbesitz, Auflösung der Allmenden, freie Orts- und Berufswahl: Damit steigerte sich die ländliche Produktivität um das Vierfache.

Zugleich drängte das Landproletariat nach Berlin, zwischen 1800 und 1880 schnellte die Einwohner-Zahl von 170 000 um 1,8 Millionen hoch. In Dahlem illustrieren Stiche und Gemälde, etwa vom Krögel-Kiez, die sozialen Folgen: Elendsgestalten, Billig-Destillen, Volksküchen, Hühnerzucht im Hinterhof. Urbane Strukturen und Versorgungseinrichtungen hielten nicht Schritt. Berlin lag weit hinter London und Paris, den beiden Vorbild-Metropolen, zurück. Die Versorgung basierte auf dem traditionellen Lebensmittelhandwerk, auf Müllern, Bäckern, Schlächtern, Fischern mit zünftigen Kleinbetrieben.

Ein pastellfarbenes Gemälde beschürzter Kippenweiber, Stiche von brav ausgerichteten Spreekähnen, Bahnhofsszenen, ein nettes Panorama des Gendarmen-Marktes: All diese Bilder erzählen, wie Erzeugnisse des Umlands mangels tauglicher Lager-Einrichtungen direkt auf die Märkte, in die Kieze verfrachtet wurden, wo man sie in Kellerläden oder an Ständen verhökerte. 1864 gab es 20 Märkte mit etwa 5971 Ständen; der größte war der Gendarmenmarkt mit rund 1300 Ständen. Die Kunstwerke ästhetisieren das Wochenmarkt-Treiben. Eine historische Geruchsprobe wäre angeraten, um die Aura der Ordentlichkeit zu stören. Texttafeln und zeitgenössische Schilderungen lassen nämlich keinen Zweifel: Großmärkte waren eine unappetitliche Veranstaltung mit Gestank, Schmutz und Ungeziefer. Das hielt die Kauflust in Grenzen. Zudem eskalierten - so bei den Kartoffel-Unruhen 1847 - selbst kleine Missernten mangels Lagerkapazität sofort zu massiven Versorgungskrisen.

Kein Geheimnis waren diese Missstände, doch erst nach und nach gelang es, das kleinbetriebliche Versorgungssystem aufzubrechen, eine moderne Infrastruktur und Lebensmittelindustrie aufzubauen. Zeichnungen der filigran konstruierten Markthallen, einer Brotfabrik oder des Zentralschlachthofes zeigen ein Berlin, das bereits im Kostüm der Wilhelminischen Moderne glänzt. Das langwierige Gezerre auf dem Weg dorthin, die Kämpfe zwischen Unternehmern, Zünften und Behörden werden vom properen Resultat verschluckt; der Katalog zeichnet sie nach. Der Staat positionierte sich als Träger der Modernisierung - de facto behinderte und beförderte er sie gleichermaßen.

Typisch: die erste Berliner Brotfabrik. Sie sollte ein Drittel des Bedarfs produzieren; die Königlich Preußische Seehandlung plante sie, unterstützt von einigen Ministerien. Die Bäcker protestierten, der Innenminister blockierte. Erst 1856 wurde sie als Aktiengesellschaft genehmigt. Ähnlich lief es bei den Markthallen, die der Magistrat schon 1847 als öffentliche Aufgabe herausgestellt hatte. Aber erst 1886, nachdem man private Investitionsvorhaben torpediert hatte, eröffnete am Alexanderplatz eine städtische Halle, die saubere, schnelle, kundennahe Versorgung erlaubte. Mit dem "Bauch von Berlin", so ihr Spitzname in Anlehnung an die Pariser Hallen, nahte das Ende der Wochenmärkte.

Schlimmer noch erwies sich die Lage der Schlachthäuser. Da die maroden öffentlichen seit 1810 geschlossen waren, wurde noch um 1870 zu Hause und in Klein-Fleischereien unter unhygienischen Umständen geschlachtet. Erst 1881 - nach der Schließung der einzigen privaten Großschlachterei - wurde ein hochmoderner "Zentralvieh- und Schlachthof" vor der Stadt errichtet. Rudolf Virchow unterstützte das Projekt. "Nicht die Herstellung billigen, sondern gesunden Fleisches" habe Priorität, mahnte der Mediziner; das erinnert an Argumente der "Fleischfabrik"-Gegner in den Zeiten von BSE. Doch stand in ihren Anfängen gerade die Lebensmittelindustrie für Qualität, Hygiene, Innovation und effizienten Vertrieb. Ihr Berliner Sinnbild ist die Bolle-Meierei, die der Milchpanscherei ein Ende macht.

Moderne Verkehrsmittel und Lebensmittelindustrie weiten die Produktpalette aus und machen Waren aus der ganzen Welt verfügbar. Mineralwasser, Limonaden, Brühwürfel, Erbswurst, Kaffee, Kakao, Zitrusfrüchte und überseeische Delikatessen wandern durch den Bauch von Berlin, freilich längst nicht erreichbar für jedermann. Um 1860, als für die Armen und Arbeiter die ersten Volks- und Suppenküchen eingerichtet werden, bieten 500 Restaurants und Kaffeehäuser dem Adel und dem Bürgertum Preußens eine Bühne zur opulenten Präsentation des eigenen Lebensstils. Die Fortsetzung der Geschichte spielt in den Gourmet-Etagen der großen Kaufhäuser und in den Fast-Food-Filialen, wo der Ein-Hand-Berliner von heute zu Hause ist oder - der Ruf des Industrial Food ist längst lädiert - bei einer Bio-Bockwurst in der Domäne Dahlem.

Gerwin Klinger

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