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Kultur: Besser beten

Was wir glauben (2): Die Religionen kehren zurück. Dabei ist der Fundamentalismus auch für Christen eine Versuchung / Von Hans Maier

Wer redet heute noch vom „Absterben der Religion“? Längst ist an die Stelle der Säkularisierung das getreten, was populäre Bücher als „Rückkehr der Religionen“, „Wiederkunft des Heiligen“ oder „Wiederkehr der Götter“ beschreiben. Nach dem Siegeszug der Globalisierung gewinnt eine gegenläufige Bewegung an Stärke, die das Andere, Eigene, Unvermischbare betont – die Kulturen und die Religionen.

Hinter dem „Clash of civilizations“ (Huntington) wird immer deutlicher der „Streit der Religionen“ sichtbar. So sind im gegenwärtigen WeltIslam Kultur und Religion längst ununterscheidbar geworden. Aber auch anderswo verstärkt sich das religiöse Element innerhalb der Kulturen. Das reicht in viele europäische Länder hinein, laizistische wie Frankreich eingeschlossen. Man studiere nur einmal die Rechtsprobleme, die seit längerer Zeit infolge des immer enger werdenden Zusammenlebens (und der mannigfachen Reibung) der Religionen auftauchen. Speziell in Deutschland hat sich die Religionsfreiheit, ein fast schon vergessener Grundrechtsartikel unserer Verfassung, in den letzten Jahren dramatisch neu belebt – und zwar genau dort, wo es um die Grundrechte der Zuwanderer ging.

Nun ist es richtig, dass in Westeuropa vor allem die außereuropäischen Religionen blühen, während die christlichen Kirchen, Protestanten wie Katholiken, an Geltung und Zuspruch verlieren. Auch der skandinavische und angelsächsische Protestantismus scheint der massiven „Wiederkehr des Heiligen“ traditionelle liberale Vorbehalte entgegenzusetzen. Doch es scheint nur so. Bei genauerem Zusehen erkennt man: Auch im westlich-atlantischen Raum wird Religion wieder ernster und vor allem wörtlicher genommen. Zumal in den USA hat die religiöse Erweckung längst die Kommandohöhen von Wirtschaft, Gesellschaft, Politik erreicht – sie drückt sich aus in einer politischen Frömmigkeit, die über die alten zivilreligiösen Überlieferungen des Landes weit hinausgeht. Das protestantische Christentum in seiner großen Mehrheit, aber auch beachtliche Teile des Judentums und eine kleinere traditionalistische Minderheit unter den Katholiken sind in den USA in den letzten Jahren „fundamentalistisch“ geworden. Was heißt das – Fundamentalismus?

„The Fundamentals“ – das war eine zwölfbändige Schrift, die sich in den USA vor dem Ersten Weltkrieg in Millionenauflagen verbreitete. Sie klagte gegenüber modernen Strömungen (Bibelkritik, Darwinismus, Evolutionslehre) die fundamentale schlichte Wahrheit und Wörtlichkeit der Bibel ein – also das protestantische Schriftprinzip, gesteigert zu einer Lehre strenger Verbalinspiration. „Fundamentalisten“ nannte man diejenigen, die sich hinter diesem Programm sammelten – Protestanten, die, erschrocken über Zeittendenzen, verwirrt über Beliebigkeit, hilflos angesichts eines sich verbreiternden theologischen Pluralismus, die kirchliche Lehre „auf den Punkt bringen“, ihr Klarheit und Unzweideutigkeit geben wollten. Man kann in diesen frühen Fundamentalisten verspätete Aufklärungsgegner sehen oder sie als verhinderte Katholiken betrachten, die innerhalb ihrer Kirche – in Ermangelung eines Lehramts – dogmatische Festigkeit wenigstens in den Lehrsätzen wünschten.

Heute verhält es sich anders mit dem amerikanischen Fundamentalismus: Seit Jahrzehnten ist er eine öffentliche Macht. Längst hat er sich aus dem Kontext eines ländlichprotestantischen, verspäteten, verschreckten Amerika gelöst: Er hat seine Seminare und seine Vordenker, er wirkt in Presse, Funk und Fernsehen, die Politik muss auf ihn Rücksicht nehmen. In jüngster Zeit rechnet man etwa zehn Prozent der amerikanischen Wähler zu seinem Einflussbereich. Wer heute amerikanische Fernsehsendungen sieht oder die Buchhandlungen in den Universitätsstädten studiert (vor allem im Vergleich zu den Siebziger- und Achtzigerjahren), der erkennt seinen Einfluss auf den ersten Blick.

Längst ist aus einer spezifischen Doktrin religiöser Eiferer eine allgemeinere Denk- und Fühlweise geworden – eine diffuse Stimmungslage, die sich nach allen Seiten verbreitet. Sehnsucht nach dem Einfachen, Kraftvollen, Verpflichtenden, so könnte man sie umschreiben. Sie kontrastiert in auffälliger Weise mit der postmodernen Tendenz zur Beliebigkeit, zum anything goes. Je mehr Weltanschauungen, Denkformen, Religionen in der heutigen Welt in einem universellen Synkretismus verschmelzen, desto mehr gewinnt die Gegenströmung an Boden: jenes Beharren auf unvermischter Identität und Ursprünglichkeit, auf einer Klarheit und Wörtlichkeit, an der nicht zu deuteln ist. Je mehr die Inhalte ins Schwanken geraten, sich in Interpretationen und Perspektiven auflösen, desto mehr klammert man sich an – vermeintlich rettende – Formen und Formeln.

Vieles deutet daraufhin, dass wir länger mit diesem Fundamentalismus werden leben müssen, in Amerika wie in Europa. Er wird so bald nicht wieder verschwinden. Wie stellt man sich auf diese neue Lage ein?

Nun, zunächst einmal dadurch, dass man sich in der alten Kunst der Unterscheidung übt. Es wäre ja allzu einfach, fundamentalistische Denkweisen in Bausch und Bogen zu verdammen. Ist nicht auch in einem Zerrbild oft etwas Richtiges enthalten? Ist nicht sogar Fanatismus manchmal nur die übersteigerte Form der Überzeugungstreue? Hat nicht Jesus die Wechsler aus dem Tempel vertrieben, die Gelehrten korrigiert, die Kinder herbeigerufen und gesagt: „Wenn ihr nicht werdet wie sie...“? Er hätte gewiss einfache Sätze nicht getadelt, immer vorausgesetzt, sie seien wahr.

Freilich werden Sätze nicht wahr dadurch, dass sie einfach sind. Und hier liegt das zweite Unterscheidungsmerkmal. Christentum ist einfältig – daran hat der Theologe Urs von Balthasar ein Leben lang erinnert. Christentum ist aber nicht einfach. Es bedarf der beweglichen Anstrengung des Geistes, der Bereitschaft, sich auf eine weite Reise zu machen, sich überraschen zu lassen, sich nicht rasch in Sicherheit zu wiegen. Die falsche Sicherheit des Wörtlichen war für die Kirche immer Anlass zur Abwehr – man denke an ultrakonkrete Prophezeiungen des Weltendes mit Jahr und Tag und Stunde, denen gegenüber zu Recht geltend gemacht wurde: Nur der Vater „kennt die Stunde“. Wo fundamentalistische Verheißungen diese Grenze zu überspringen versuchen, führen sie in die Irre.

Alle Fragen an den Fundamentalismus laufen am Ende auf eine einzige hinaus: Ist das Ziel ein Glaube, der sich ausdrücken will im Medium der Vernunft – oder geht es um blindes Annehmen eines Unbegriffenen? Das Denken kann ja den Glauben in einer zweifachen Weise verfehlen: indem es ihn in Erkenntnis aufzulösen strebt – oder indem es ihm jede intellektuelle Annäherung verweigert. Wer sich im gefundenen Satz beruhigt, übersieht oft den Kontext. Die alten Theologen nannten dies „hairesis“ – Häresie: die „Herausnahme“ einer Teilwahrheit aus dem Ganzen, dem „kat’holon“.

Im Zerbröckeln eines traditionalen Christentums wird heute die persönliche Entscheidung, die individuelle Zuwendung zum Gottesglauben immer wichtiger. Anderseits führen die Spannungen, in denen der in die Einzelheit verwiesene Christ lebt, oft zu unerträglichen seelischen Belastungen. Der Fundamentalismus ist kein Ausweg. Er spiegelt eine Festigkeit vor, die nicht wirklich existiert. Wie holt man Menschen heraus aus solch trügerischen Sicherheiten? Wie befreit man sie von der Illusion, den Willen Gottes (im Unterschied zu anderen) genau zu kennen? Ich denke an die Weisheit des großen Seelenführers und Ordensgründers Benedikt von Nursia in seiner Regel (einem Grundbuch Europas!): Noch vor der Arbeit kommt das Beten – aber vor beiden, dem Beten und dem Arbeiten, steht das große Hören (mit „aufgerissenen Ohren“) auf Gottes Wort.

Und manchmal meine ich, wenn ich Fernsehbilder des betenden amerikanischen Präsidenten sehe: Es wäre gut, wenn er vorderhand erst einmal schwiege, nachdächte, hinhörte – lange vor dem Beten, noch länger vor dem Tun.

Hans Maier ist Emeritus der Universität München. Er lehrte Politikwissenschaft, war sechzehn Jahre Bayerischer Kultusminister und hatte elf Jahre den Münchner Guardini-Lehrstuhl für Christliche Weltanschauung inne. Zuletzt erschien von ihm „Welt ohne Christentum – was wäre anders?“ (Herder, 2000) .

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