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Glorreiches Dutzend. Die Musiker beim Einspielen in Lichterfelde.

© Peter Adamik

Besuch bei den 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker: Tausend tolle Tango-Takte

Unter Kniegeigern: Wie die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker in den Teldex Studios in Berlin-Lichterfelde ein neues Album einspielen.

Ein grauer Januarvormittag in Lichterfelde. Draußen treibt der eisige Wind Schneeflocken vor sich her, drinnen herrscht südamerikanische Sommernachtsstimmung: tropisch-schwüle Luft, rauchgeschwängert, schummriges Licht, geschmeidige Körper in engem Kontakt, hochgradig erotisierte Atmosphäre. Diese Flut von Assoziationen wird ausgelöst von den Klängen, die im unwirtlichen Ambiente einer Fabrikhalle aufsteigen, erzeugt von einem Dutzend Musiker, die alle das gleiche Instrument spielen.

Die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker nehmen Tangos auf. Titel von Astor Piazzolla und weiteren Granden der argentinischen Musikszene, in virtuosen Arrangements, die extra für sie geschrieben wurden. Es soll die neunte CD der 1973 gegründeten Formation werden. Sechs Jahre liegt die letzte Veröffentlichung zurück, das „Fleur de Paris“-Album mit französischem Repertoire. Nicht, dass ihre Aufnahmen erfolglos wären – die Cellisten haben nur einfach sehr wenig Zeit, um neues Material einzustudieren. Schließlich arbeiten sie hauptberuflich in einem der produktivsten, reisefreudigsten Sinfonieorchester der Welt. Und zwar niemals gleichzeitig. 13 Planstellen für die Kniegeigen gibt es bei den Philharmonikern, nach einem ausgeklügelten, rotierenden System teilen die Musiker selber ein, wer bei welchem Programm auf dem Podium sitzt.

Nur eine Handvoll Konzerte der Cellisten lassen sich darum pro Jahr organisieren, am einfachsten auf Tourneen: dann schieben die zwölf einen Auftritt ein, wenn die Kollegen ihren freien Tag genießen. Noch schwieriger ist es mit Aufnahmen. Die vier Tage, die jetzt für die Tango- CD nötig waren, haben sich die Musiker von ihrem Winterurlaub abgeknapst. Weil ihnen das Spielen in der Gruppe einfach so viel Spaß macht.

In Argentinien kommt der Tango made in Berlin gut an

Mit dem neuen Album nehmen sie einen Faden wieder auf, den sie im Jahr 2000 ausgelegt haben. Damals erschien „South American Getaway“, unter anderem mit drei Piazzolla-Nummern – und die glorreichen zwölf sind selbstbewusst genug, ihr Produkt in Buenos Aires zu präsentieren, während eines Argentinien-Gastspiels des Orchesters mit Claudio Abbado. Als dort plötzlich die Tangolegenden Horacio Salgán und José Bragato auftauchen, in Gamaschen, mit Stock und Zwicker, wird den Berlinern allerdings doch ein wenig bang. Aber die Altmeister des Genres lächeln, sind stolz darauf, dass ihre Tanzmusik zu anspruchsvoller Konzertsaal-Kost nobilitiert wurde. Der Geiger und Komponist José Carli widmet den Deutschen anschließend sogar mehrere Stücke, von denen sich jetzt zwei auf der neuen Einspielung wiederfinden.

Darum also jetzt: aufs neue Tango Nuevo. Was Tonmeister Christoph Franke in den Lichterfelder Teldex Studios rund um die halbkreisförmig aufgestellten Musikerstühle installiert hat, sieht für den Laien aus wie ein Urwald aus Kabeln und Mikrofonen. „Wir nehmen auf vier Ebenen auf“, erklärt er. „Vor jedem Notenständer gibt es ein Mikrofon, in der Mitte haben wir den sogenannten Decca Tree installiert, bei dem drei der legendären, heute teuer gehandelten U50-Mikros aus den fünfziger Jahren in dreieckiger Formation an Stativen aufgehängt werden. Und dann gibt es noch jeweils paarweise aufgestellte Mikrofone, die in weiterer Entfernung stehen und den Raumklang einfangen.“

Fast ein wenig verloren wirken die Musiker in der riesigen Halle, in der locker auch ein ganzes Orchester Platz fände. Linker Hand, neben den Garderoben, haben sie ihre Instrumentenkoffer abgestellt, silbrig oder schwarz glänzende Transportbehältnisse, die man auf den Rücken schnallen kann und die mit ihren schmalen Schultern und dem lang gezogenen Hals die Charakteristika ihres wertvollen Inhaltes gut sichtbar nachbilden. Zwei der 12 Cellisten spielen lieber ohne Lehne im Rücken und haben sich deshalb die Klavierhocker der zwei Konzertflügel geschnappt, die rechter Hand auf ihren nächsten Einsatz warten. Ein Musiker und eine Musikerin haben ihre Winterstiefel gegen kuschelige Hausschuhe getauscht. „Beim Schwierigkeitsgrad dieser Arrangements kann man schnell kalte Füße kriegen“, sagt Solocellist Ludwig Quandt lachend. Die Stimmung ist konzentriert aber nicht angespannt.

Feinste Temposchwankungen und Nuancen werden ausbalanciert

Extrem kleinteilig wird an den Interpretationen gefeilt, Takt für Takt müssen feinste Temposchwankungen und dynamische Nuancen ausbalanciert werden, immer im polyphonen Dialog, bis das Zusammenspiel perfekt ist, bis aus dem Dutzend Einzelstimmen jener prachtvolle, raumgreifende Klang aufsteigt, der die Fans jedes Mal aufs Neue berauscht. Zwei Stunden Aufnahmezeit gönnen sich die 12 Cellisten für jeden Drei-Minuten-Track ihrer CD, eine volle Arbeitswoche plant der Tonmeister anschließend für die Nachbearbeitung ein.

„Aus meiner Sicht passt der Tango am allerbesten zu unserem Ensemble“, sagt David Riniker, von dem die Arrangements stammen. „Weil man bei dem Genre einerseits Biss braucht, und weil da andererseits diese Melancholie ist, der wir Cellisten uns sehr nahe fühlen.“ Mag die Truppe, zu der seit 2006 respektive 2009 mit der Französin Solène Kermarrec sowie der Britin Rachel Helleur auch zwei Frauen gehören, beim Mittagessen angenehm locker und lebenslustig wirken – Cellisten tendieren beim Spielen zur sanften Traurigkeit, lieben den sehnsuchtsvollen Gesang, nutzen die Nähe ihres Instruments zur menschlichen Stimme, um die Schattenseiten der Seele zu erforschen.

Wenn die Spieler aber, wie jetzt beim Tango-Projekt, gleichzeitig als ihre eigene Perkussion-Gruppe druckvolle Beats produzieren müssen, dann ergibt sich zwischen schwelgerischer Melodik und schrundigen Schabegeräuschen von Rosshaar auf Stahlsaiten ein faszinierender, energiegeladener, absolut eigenständiger Sound. Dessen Reichtum in dem liegt, was David Riniker seinen Kollegen zwischen Hauptlinie und Begleitung maßgeschneidert in die Noten schreibt: tausend raffinierte Details nämlich, unterschwellige Gegenbewegungen, Kommentare aus dem Off, verrückte Knarr- und Schnalz-Effekte, deren Erzeugungsmethoden rätselhaft bleiben, haarsträubend schwere Soli, kurz, ein komplexes Geflecht der Nebenstimmen, das im Idealfall nicht als kunstvoll-künstliche Konstruktion wahrgenommen wird, sondern als rauschhaftes Hörerlebnis.

„Danke, ich hab, was ich brauche!“ Blechern klingt Christoph Frankes Stimme durch den Lautsprecher. In seinem Studio am anderen Ende des Flures schiebt der Tonmeister die Regler runter. Ruck zuck sind zwölf Celli verstaut und geschultert: Tschüss, bis morgen, bei der Probe mit den Orchesterkollegen!

Nächster Auftritt: 19.4. im Konzerthaus bei einem Benefizabend für „Live Music Now“. Die Tango-CD soll im Sommer erscheinen.

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