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Sehnsucht nach dem Haptischen. Anja Dornieden (v. l.), Iana Stefanova, Laurence Favre, Arne Hector (sitzend) und Jan Rehwinkel gehören zum Kollektiv Labor Berlin.

© Georg Moritz

Besuch bei Labor Berlin: Die Film-Guerilla aus dem Hinterhof

Die ganze Kinoindustrie ist digitalisiert? Nein! Das freie Kopierwerk Labor Berlin glaubt unverdrossen an den Analogfilm.

Von Andreas Busche

Die Vergangenheit des Kinos ist weniger glamourös als man sie sich gemeinhin vorstellt. Im Wedding zum Beispiel ist sie in einem Gewerbehof aus der Gründerzeit untergebracht, den heute eine Berliner Genossenschaft verwaltet. Zweiter Hinterhof, Erdgeschoss, Aufgang links, da stehen die Relikte einer Zeit, die noch gar nicht lange zurückliegt und doch schon so vormodern erscheint, als betrete man eine archäologische Ausgrabungsstätte: eine Entwicklungsmaschine für 16-mm-Film, ein Kontaktkopierer ebenfalls für 16mm, ein Kombi-Kopierer für Super8, 16mm und 35mm sowie – Schmuckstück der Sammlung – ein massiver Tricktisch für optische Effekte. Sie erinnern daran, dass das Kino über hundert Jahre lang ein analoges Medium war.

Kinovorführer denken mit Grauen zurück an die unhandlichen Filmrollen, die sie vor jeder Vorführung wieder auf Anfang spulen und in den Projektor hieven mussten. Bis die Filmindustrie vor knapp zehn Jahren entschied, den Betrieb auf digital umzustellen. Über Nacht wurde eine ganze Branche umgekrempelt: Produktionsfirmen, Kopierwerke, Kinos, alle mussten sich dem Wandel unterwerfen. Der sogenannte digital rollout wurde europaweit mit einem Wahnsinnsaufwand betrieben. Digital war das neue Ding. Die analoge Geschichte verschwand nahezu unbemerkt aus den Kinos.

In dem Gewerbehof im Wedding ist diese Geschichte noch zu bestaunen – und zwar nicht als Museum, sondern als Produktionsort. Hier sitzt Labor Berlin, ein 2009 gegründeter Verein mit heute etwa 50 Mitgliedern: Filmemacherinnen und Filmemachern aus aller Welt, die sich den neuen Gegebenheiten des Marktes ebenfalls anpassen mussten. Analoge Kopierwerke, lange Zeit ein verlässlicher Partner von Amateur- und Experimentalfilmern, verschwanden nach und nach, sie wurden genauso obsolet wie Entwicklungsmaschinen und Kontaktkopierer.

Filmemacher haben Verwendung für ausgemusterte Maschinen

Das große Sterben der letzten zehn Jahre flutete den Markt mit Gerätschaften, für die kommerzielle Unternehmen keine Verwendung mehr hatten. Filmemacher hingegen schon. So endeten die 16-mm-Entwicklungsmaschine und der Kontaktkopierer im Wedding. „Wir wollten die Maschinen erhalten und wieder einsetzen“, erklärt Arne Hector, eines der Gründungsmitglieder von Labor Berlin. „Wenn niemand mehr mit ihnen arbeitet, verschwindet das Wissen – und damit auch eine Kulturtechnik.“

Die Geräte stammen aus den Beständen des kleinen Kopierwerks Film 16 bei Bonn, das 2015 schließen musste. Gründer Helmut Rings war selbst ein Maverick des freien Unternehmertums, unter seinem Namen entwickelte und vertrieb er die Maschinen, die heute im Wedding stehen. Mit der Crowdfunding-Kampagne „Film ain’t Dead“ konnte Labor Berlin mit der Hilfe von 600 Spendern über 33 000 Euro sammeln – genug, um den Gerätepark von Rings zu übernehmen. „Niemand von uns hat je vorgehabt, ein Kopierwerk zu leiten oder diese Maschinen selbst zu bedienen“, meint Anja Dornieden, ebenfalls ein langjähriges Mitglied, „aber es wurde irgendwann eine Notwendigkeit, wenn man weiter künstlerisch mit Film arbeiten wollte. Bestimmte Leistungen werden heute schlichtweg nicht mehr angeboten – oder wenn, nur noch zu Preisen, die nicht bezahlbar sind.“

Ein wenig erinnert Labor Berlin an eine Film-Guerilla, die außerhalb der Industrie operiert. Film war immer ein Geschäft, doch um Geld geht es bei Labor Berlin nicht: Das Kopierwerk wird nur für den Eigenbedarf betrieben. Man versteht sich als Kollektiv, das Wissen ausgräbt und weitergibt. Für viele Filmemacherinnen und Filmemacher in der Gruppe war die Beschäftigung mit den Maschinen zudem ein wichtiger Schritt, um erstmals die gestalterischen Möglichkeiten der Technik verstehen zu lernen. „Plötzlich merkt man“, sagt Hector, „dass der fotochemische Prozess Experimente zulässt, die in kommerziellen Kopierwerken nie jemand versucht hätte. So können beispielsweise ,Fehler‘ in den Prozess eingeführt werden, was dem Material eine eigene Ästhetik gibt.“

Ein Kopierwerk in Kairo aufbauen? Der Verein half

Ihre Erfahrungen geben die Mitglieder von Labor Berlin auch an Interessierte weiter. Der Verein gehört zu einem europäischen Netzwerk unabhängiger Kopierwerke, die sich weiter dem analogen Filmemachen verschreiben. Vor einigen Jahren half man gemeinsam mit einem Labor in Athen einer Gruppe ägyptischer Filmemacher, ein Kopierwerk in Kairo aufzubauen. Und im Rahmen des Projekts „Kulturelle Bildung“ des Berliner Senats geben die Mitglieder Workshops an Schulen, in denen Kindern und Jugendlichen der Umgang mit dem Filmmaterial gezeigt wird. „Kinder entwickeln ein intuitives Verständnis für Filmbilder“, meint Hector, „wenn sie einen Streifen in die Hand nehmen können. Man kann sich so viel besser vorstellen, wie Film funktioniert.“

Die neue Sehnsucht nach dem Haptischen und der Materialität einer zunehmend von digitalen Erfahrungen geprägten Welt hat die Nostalgie für das analoge Kino beflügelt. In Museen und Galerien rattern wieder 16-mm-Projektoren, Kinos werben mit der Aufführung von alten Filmkopien. Vor sechs Jahren beklagte die Künstlerin Tacita Dean, ebenfalls eine Unterstützerin von „Film ain’t Dead“, in der britischen Tageszeitung „The Guardian“ das Verschwinden der analogen Filmproduktion.

All diese Entwicklungen haben auch das Bewusstsein für das Engagement von Labor Berlin geschärft. Die Filmemacherinnen und Filmemacher sind immer häufiger zu Gast auf Panels, auf denen die Zukunft des analogen Films und historische kulturelle Praktiken diskutiert werden. In Berlin arbeitet der Verein eng mit dem Arsenal Institut, der Universität der Künste und der Filmuniversität Babelsberg zusammen. Man habe erkannt, sagt Dornieden, dass man Teil einer größeren Bewegung ist. Ohne es zu beabsichtigen, ist es gewissermaßen ihr gesellschaftlicher Auftrag geworden, ein Kopierwerk zu betreiben – zumindest so lange Firmen wie Kodak oder Orwo noch Filmmaterial produzieren. Keine Kunst war je so abhängig von den Standards einer Industrie wie der Film. Die Abhängigkeit von diesen Produktionsmitteln macht die Gründer von Labor Berlin erfinderisch. Insofern hat ihr Widerstand durchaus heroische Züge.

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