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Nachtaktiv. Protest und Pose – die Revolution maskiert sich trés chic.

© Carole Bethuel/Real Fiction

Betrand Bonellos „Nocturama“: Die Welt gehört uns

Zombies im Kaufhaus: Bertrand Bonellos Täterstudie „Nocturama“ über eine Gruppe Pariser Kids, die ihre Stadt mit Bombenanschlägen überziehen.

Von Andreas Busche

Unwiderstehlich und mit hypnotischer Anmutung bewegen sie sich durch Paris. Wege und Blicke kreuzen sich, Gegenstände werden wortlos übergeben, Mobiltelefone landen in Mülleimern. Eine rätselhafte, konzentrierte Geschäftigkeit treibt die Jugendlichen in Bertrand Bonellos „Nocturama“ um. Ihre Wege hinterlassen unsichtbare Linien im Stadtbild, ohne erkennbares Muster. Allein wie die Kamera den Raum, den die Jungen und Mädchen durchqueren, zusammenzieht, durch scheinbar zufällige Begegnungen, ein beiläufiges Passieren auf dem Bahnsteig oder – im Schnitt – mit nahtlosen Match-Cuts, das stellt eine Dringlichkeit her, die dennoch ihr Geheimnis wahrt. Irgendwas passiert in diesen ersten 30 Minuten, in denen kaum ein Wort fällt

Der jugendliche Drive – zielstrebig, aber durchsetzt von einem latenten Gefühl der Paranoia, das durch das pulsierende Tuckern im krispen Sounddesign noch verstärkt wird – erinnert entfernt an den frühen Jacques Rivette. „Paris gehört uns“, proklamierten die Protagonisten seines Debütfilms von 1961; mit derselben Selbstverständlichkeit bewegen sich in „Nocturama“ auch David, Greg, Yacine, Sabrina, Andre und Omar durch die Stadt. En passant geraten neuralgische Punkte des öffentlichen Lebens in den Blick: die bronzene Jeanne-d’Arc-Statue, ein historischer Bezugspunkt für die neue Rechte in Frankreich, das Innenministerium, die Bankzentrale der HSBC, ein Luxuskaufhaus. Nicht einmal in demografischer Hinsicht lässt die Gruppe Rückschlüsse zu. Zu ihr gehören höhere Söhne und Töchter ebenso wie ein Geschwisterpaar maghrebinischer Herkunft und Arbeiterkinder. Der Jüngste von ihnen stammt aus der Banlieue. Regisseur Bonello suggeriert eine Diversität, die in ihrer absichtsvollen Setzung noch mehr Verwirrung stiftet.

Die revolutionäre Utopie schreibt alte Stereotype fort

Revolutionäre Parolen werden verkündet, aber zunächst geht es nur um eine Hausarbeit für die Uni. Das Utopische dieser Gruppenkonstellation des black, blanc, beur hält Bonello lange in der Schwebe, selbst als der Plan der Jugendlichen konkrete Formen annimmt.

In den Abendstunden beginnen sie, die Stadt mit einer Reihe von Bombenanschlägen zu überziehen – arrangiert in einer Splitscreen-Einstellung, die an Überwachungsmonitore erinnert. Sie finden Unterschlupf in einem Luxuskaufhaus, wo sie die Nacht überbrücken. Auf diese soziologisch reizvolle Situation bezieht sich der Filmtitel: Nocturama nennt man ein Terrarium für nachtaktive Tiere. Unter dem Einfall der fahlen Notbeleuchtung verwandelt sich der radikale Ennui der Kids in ein regressives Phlegma. Sie werden Zombies im Kaufhaus.

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Mit der Wahl des Orts bezieht der Film eine scheinbar kritische Position, die Bonello nie einzulösen versucht. Die somnambule Antriebslosigkeit der Figuren verliert sich in diffusen Kreisbewegungen beim Streifen durch die Gänge. Der Impuls der Kids, in der Warenwelt aufzugehen, knüpft an das konsumistische Begehren an. Während die Kinder der arrivierten Oberschicht ihre Taubheit bis in den Ausnahmezustand hinein verlängern, ihre Straßenkleidung gegen maßgeschneiderte Anzüge und minimalistisch geschnittene Kleidchen eintauschen und zwischen Designermöbeln Hochzeitsrituale durchspielen, realisieren die Migrantenkinder ihre Träume von fetten Bassboxen und hippen Sportartikeln. Die revolutionäre Utopie schreibt die alten Stereotypen fort.

Auch Geschlechtergrenzen werden spielerisch außer Kraft gesetzt, ohne die sexuelle Ordnung ernsthaft zu gefährden. Die Karaoke-Nummer mit Shirley Basseys Sinatra-Cover „My Way“ ist da nur noch ein müder Akt der Selbstbehauptung. Bonello – auch Regisseur des Yves Saint-Laurent-Biopics von 2014 – arbeitet kalkuliert mit der ausstaffierten Markenwelt, rückt die Produkte buchstäblich ins rechte Licht. Aber seine nachgeschobene Motivation für den generalstabsmäßig durchgeführten Terroranschlag weist letztlich nicht über die Geste eines Radical Chic hinaus. Die Leere der Kids wird sinnbildlich im Motiv der Schaufensterpuppe, vor der einer der Jungs im identischen Sportoutfit steht: eine perfide Doppelung, in der die Beschränkung des diffusen Wunschs nach Ausbruch zum Ausdruck kommt.

Der Film wirkt heute fast wie ein Anachronismus

Das Anti-Psychologische hat sich Bonello von Gus Van Sants „Elephant“ über den Columbine-Amoklauf abgeguckt – welcher seinerseits bereits von Alan Clarkes gleichnamigem Film inspiriert war. In „Nocturama“ ist die prozesshafte Diagnose mit langen Plansequenzen und zeitlichen Überlappungen (dieselben Ereignisse werden aus immer wieder neuen Perspektiven erzählt) nur noch eine formale Spielerei. Eine Auseinandersetzung mit der Tat findet nicht mehr statt, Reaktionen auf den Anschlag dringen nur in Form von TV-Sondersendungen zu den Jugendlichen durch.

Bonellos Film entstand vor den Pariser Anschlägen im November 2015 und wirkt heute, unter vollkommen neuen Bedingungen des Terrors, fast wie ein Anachronismus. Von einer produktiven Verstörung, die Bonello wohl beabsichtigte, ist nichts geblieben. So schnell kann ein Film von der Realität eingeholt werden.

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