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Kultur: Bettina Gaus konstatiert das Ende der Streitkultur in der Bundesrepublik

Die politische Streitkultur in Deutschland verkümmert. Über alle großen gesellschaftlichen Entscheidungsfragen legt sich wie Mehltau das zwanghafte Streben nach dem nationalen, parteien- und interessenübergreifenden Konsens.

Die politische Streitkultur in Deutschland verkümmert. Über alle großen gesellschaftlichen Entscheidungsfragen legt sich wie Mehltau das zwanghafte Streben nach dem nationalen, parteien- und interessenübergreifenden Konsens. Nicht nur in der Politik, auch in der Gesellschaft schwindet die Lust an kontroverser Auseinandersetzung. Auch im persönlichen Umfeld seien heftige Diskussionen über ein Sachthema selten geworden. "Stattdessen werden ironische Halbsätze und flüchtig hingeworfene Bemerkungen als Fühler ausgestreckt, mit denen geklärt werden soll, ob das Gegenüber die eigene Meinung teilt. Ist das nicht der Fall, wird das Thema eilig gewechselt."

Scheinheilig nennt Bettina Gaus, politische Korrespondentin der taz, diesen allgemeinen Hang zur Konfliktvermeidung. Denn er suggeriert, die Routine der politischen Machtverwalter sei alternativlos, da von "Sachzwängen" vorgegeben. In Wahrheit verwende die politische Klasse ihre Energien vor allem darauf, ihre Ratlosigkeit angesichts wachsender Strukturprobleme zu verbergen. Gaus vergegenwärtigt noch einmal die "Stagnationsperiode" deutscher Politik vor dem Regierungswechsel 1998. Nicht ganz zu überzeugen vermag ihre These vom organisierten politischen Leerlauf im Blick auf die Entwicklungen seit der Machtübernahme von Rot-Grün. Obwohl bestimmte, von ihr beobachtete Entpolitisierungsmechanismen unverändert fortbestehen, ist es doch in einer Reihe von Fragen zu verschärften innenpolitischen Auseinandersetzungen gekommen. Etwa in der Frage des Staatsbürgerschaftsrechts. Und im Kosovo-Krieg.

Dessen Analyse widmet die Autorin ein eigenes Kapitel. Zu Recht kritisiert sie, dass eine so einschneidende Frage wie die Beteiligung Deutschlands an einem Krieg ohne UN-Mandat nicht im Bundestag entschieden wurde. Und sich alle "staatstragenden" Parteien ohne ausreichende Begründung über ihre früheren Positionen in dieser Frage hinweggesetzt haben. In der Öffentlichkeit hat es darüber aber eben doch heftige Kontroversen gegeben. Und die hatten durchaus Einfluss auf das Verhalten der politischen Klasse: etwa in der Festlegung, sich auf keinen Fall an einem Bodenkrieg zu beteiligen.

Obwohl ich eine gegensätzliche Position habe - ich halte das Eingreifen der Nato für notwendig und gerechtfertigt -, stimme ich Gaus zu: Die Debatte über das Für und Wider der Intervention wurde in Deutschland viel zu abstrakt und mit glaubenskrieghaftem Furor geführt.

Gaus erweckt freilich den Eindruck, nur Gegner der Nato-Aktion hätten unter herablassenden Abstempelungen und diffamierenden Anfeindungen zu leiden gehabt. Die Befürworter des Einsatzes mussten damit rechnen, als "Kriegstreiber", "Menschenrechtsfundamentalisten" oder scheinheilige Ideologen beschimpft zu werden, denen serbische Menschenleben nichts wert seien, - oder als naive Nachbeter von Regierungsverlautbarungen. Diese Stimmung machte es fast unmöglich, die eigene Position differenziert darzustellen. So konnte man ja durchaus für den Militäreinsatz optieren, dessen Vorgeschichte und Ausführung aber sehr kritisch beurteilen. Derartige Differenzierungsversuche wurden im Wortgefecht als widersprüchliches Herumlavieren ausgelegt. So zwangen sich die Kontrahenten gegenseitig zur plakativen Vergröberung. Alle Beteiligten waren weniger an der Reflexion der Dilemmata und an der Entwicklung von Lösungsperspektiven für den Kosovo-Konflikt interessiert als daran, die intellektuelle und moralische Konsistenz der eigenen Haltung zur Schau zu stellen.

So erweisen sich der deutsche Konsenszwang und die Ablösung des politischen Glaubensstreits vom Korrektiv des an der Wirklichkeit überprüfbaren Arguments als zwei Seiten der selben Medaille: Sie indizieren eine manische Selbstbezogenheit deutschen Gegenwartsbewusstseins. Wenn die Deutschen erst einmal debattieren, gerieren sie sich, als hinge von ihren Ansichten das Schicksal und Seelenheil der ganzen Welt ab. Die Überanstrengung, die sie sich damit zumuten, führt zu rascher Kampfesermüdung und zum Rückfall in apathische Indifferenz. So geht dann eben doch alles im gewohnten Trott weiter.Bettina Gaus: Die scheinheilige Republik. Das Ende der demokratischen Streitkultur. Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart / München 2000. 183 Seiten, 39,80 DM.

Richard Herzinger

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