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Kultur: Bewunderung und Ungemach

Eine Ausstellung im Berliner Liebermann-Haus klärt das Verhältnis von „Chagall und Deutschland“

Marc Chagall (1887–1985) gehört mit Miró und Kokoschka zu jenen Künstlern, die mit einem höchst produktiven, aber auch zu Wiederholung und Selbstzitat neigenden Alterswerk zu Lieblingen des Massengeschmacks aufstiegen. Postkarten und Wandkalender trugen die Erinnerungen an ein unbeschwertes Milchmann-Tevje-Stetl in die westdeutsche Bundesrepublik. Was darüber in Vergessenheit geriet, war die Frage, mit welchen Teilen seines Œuvres Chagall der Moderne des 20. Jahrhunderts zuzurechnen ist; und gänzlich verdrängt war das bittere Ungemach, das Chagalls von deutschen Museen gesammelten Bildern im „Dritten Reich“ zuteil wurde.

Um beide Themen kreist die Ausstellung „Chagall und Deutschland“, die die Stiftung „Brandenburger Tor“ gemeinsam mit dem Jüdischen Museum Frankfurt am Main ausrichtet und die von Samstag an im Max-Liebermann-Haus, dem Sitz der Berliner Stiftung, zu sehen ist. Vorrangig geht es um das zweite Thema: den Umgang der Deutschen mit dem anfangs geschätzten, dann verfemten und schließlich verehrten Chagall. Aber dahinter verbirgt sich das andere Thema der Modernität Chagalls; ein Thema, das mit der aus schlechtem Gewissen gespeisten Verehrung der 50er und 60er Jahre schon erledigt schien.

Es heißt also, die herkömmlichen Ansichten über die Kunst Chagalls beiseite zu lassen und sich ganz auf die 140 im Liebermann-Haus gezeigten Arbeiten einzulassen. Denn der Chagall der westdeutschen Arztpraxen – und auch der Glasfensterentwürfe für St.Stephan in Mainz 1973 – ist nicht identisch mit dem Künstler, dessen frühe Werke der unermüdliche Verfechter der Avantgarde, der Berliner Galerist Herwarth Walden, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ausstellte und zu einem erstaunlichen Maß auch verkaufen konnte.

Wie für den Franzosen Delaunay oder die italienischen Futuristen war Walden auch für Chagall die Schlüsselfigur zur deutschen Kunstszene. Der „1. Deutsche Herbstsalon“, jene genial aus dem Ärmel geschüttelte und dann doch wirkungsmächtige Übersichtsausstellung zur europäischen Avantgarde, versammelte auch Bilder des 1887 in einem ärmlichen Vorort des weißrussischen Witebsk geborenen Malers. Im folgenden Jahr richtete Walden ihm in seiner „Sturm“-Galerie die erste Einzelausstellung aus. Fast das ganze während des ersten Pariser Aufenthaltes zwischen 1910 und 1914 geschaffene Werk Chagalls passierte den „Sturm“ – mit dem Ergebnis, dass sich zwischen 1913 und dem Jahr von Hitlers „Machtergreifung“ 1933 an die 200 Arbeiten des Künstlers in deutschen Sammlungen, privaten wie öffentlichen, befanden.

Mit diesen frühen und zugleich reifen Arbeiten zählt Chagall zur europäischen Avantgarde. Die bei den französischen Fauves abgeschauten, doch gleichzeitig von den russischen Neuerern bevorzugten kräftigen Farben setzt Chagall für die ganz eigene Bildwelt einer surreal verfremdeten jüdischen Folklore ein, für die später so beliebten fliegenden Kühe, trinkenden Soldaten und bärtigen Rabbis. „Ich und das Dorf“ heißt eines der Hauptwerke dieser Zeit, 1914 im „Sturm“ ausgestellt. Der Titel ist programmatisch, bedenkt man die Hymnen auf die Großstadt, die der deutsche Expressionismus zu dieser Zeit herausschrie. Chagall gab den autodidaktischen – tatsächlich aber vier Jahre in Atelier und Akademie ausgebildeten – Provinzler, der unbeschwert durch die Welt seiner Kindheit gleitet.

Blickfang der Ausstellung ist das Gemälde „Der Rabbiner“ von 1912, das für die Berliner Station aus schweizerischem Privatbesitz hinzugewonnen werden konnte. Es stellt den vom Teufel zum Schnupftabakgebrauch am Sabbat verführten Rabbiner dar – und zeigt damit Chagalls ironischen Blick auf das Ostjudentum. Die spätere, ungleich berühmtere Zweitfassung des Gemäldes befindet sich heute in Basel – von den Nazis als „entartet“ auf die berüchtigte Auktion von Luzern 1939 gegeben.

Berliner Ausstellung, deutscher Museumsbesitz, NS-Beschlagnahmung und Verkauf in alle Welt – diese Stationen sind mit Chagalls Frühwerk, wie es im Erdgeschoss des Liebermann-Hauses ausgebreitet wird, untrennbar verbunden. In den 20er Jahren festigte sich Chagalls Ruf, und die Museen, die sich in Deutschland wie in keinem zweiten Land zur Moderne bekannten, erwarben zahlreiche Bilder. Chagall wurde jetzt stärker als jüdischer Künstler wahrgenommen, als „genrehafter Realist aus der russischen Provinz und jüdischer Visionär“, wie es in einer Monografie von 1923 hieß. Da hatte der Maler gerade seinen neunmonatigen Berlin-Aufenthalt 1922/23 hinter sich. Dieser Zwischenstopp auf dem Weg nach Paris war materiell ein Fiasko, weil die treuhänderisch bewahrten Verkaufserlöse der Vorkriegszeit „zum Gegenwert eines Fahrscheins der Berliner Straßenbahn zusammengeschmolzen“ waren, wie Kuratorin Annette Weber im vorzüglichen Katalog schreibt. Künstlerisch aber war er ein Gewinn, weil Chagall hier die grafischen Techniken erlernte, in denen er bald brillierte. Gezeigt wird die berühmte, 26 Blätter umfassende Radierungsmappe „Mein Leben“, die das ganze Inventar des Stetl vorführen, aber auch die Reihe der Illustrationen zu den Fabeln La Fontaines, mit denen Chagall 1930 in Paris seinen Durchbruch erzielte und die im selben Jahr bei Flechtheim in Berlin gezeigt wurden. Dazu reiste der Künstler ein letztes Mal an die Spree – und besuchte Max Liebermann im Vorgängerbau des Stiftungshauses.

Im Obergeschoss wird die ahnungsvolle Beschäftigung Chagalls mit dem Holocaust thematisiert; die immer wiederkehrenden Kreuzigungen des Juden als Metapher des Völkermordes. So wird die Vorzeichnung zur „Weißen Kreuzigung“ gezeigt; und es ist diese Verbindung von christlicher und jüdischer Symbolik, die wohl zu der Verehrung beigetragen hat, die Chagalls Werk im Nachkriegsdeutschland entgegenschlug. Das Erzählerische, das Farbige, das diffus Religiöse – Chagall bot eine Moderne für jedermann. Die Resonanz auf die Chagall-Ausstellungen, vor allem 1959, muss enorm gewesen sein.

Und doch ist nicht zu verkennen, dass die stärkeren Arbeiten am Beginn liegen: in jener Epoche, die Herwarth Walden vor dem Ersten Weltkrieg einleitete und die in der Weimarer Republik ihre kurze Blüte erlebte. „Chagall und Deutschland“ fasst wie in einem Brennglas die Geschichte des deutschen Missverhältnisses zur Moderne.

Max-Liebermann-Haus, Pariser Platz 7, bis 1. August. Katalog im Prestel Verlag, 19,80 €.

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