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Szene aus "Men, Women, Children".

© Festival

Bilanz des Toronto International Filmfestivals: Total vernetzt, völlig allein

Von Genies, Familien im Internetstrudel und Oscar-Chancen: Das diesjährige Toronto International Filmfestival (TIFF) zeigte sich interessant und kontrovers. Eine Bilanz.

Patricia (Jennifer Garner) ist eine Mutter, die alles unter Kontrolle hat. Tapfer und unerschrocken tritt sie den Gefahren entgegen, die Internet und soziale Netzwerke für ihre Tochter bereithalten. Alle Datenaktivitäten über den heimischen Router werden vollständig protokolliert und ausgewertet. Eine automatische Alarmfunktion übermittelt jedes Update auf der Facebook-Seite der Tochter sofort zum mütterlichen Smartphone. Patricia ist der Albtraum eines jeden Teenagers, ein NSA-Muttertier, das in Jason Reitmans „Men, Women, Children“ auf überzeichnete Weise die elterlichen Angstfantasien der Internet-Ära verkörpert.

Die bittersüße Satire gehörte beim diesjährigen Toronto International Filmfestival (TIFF) zu den interessantesten und kontrovers diskutierten Beiträgen. Anhand von vier Familien zeigt der Film die Auswirkungen totaler elektronischer Vernetzung auf die Beziehungen zwischen Eltern und jugendlichen Kindern. Ein pornosüchtiger Vater, dessen Frau ihr außereheliches Glück auf einer Dating-Seite sucht, ein magersüchtiges Mädchen, das im Netz von Gleichgesinnten beraten wird, eine Cheerleaderin, die von einer Hollywood-Karriere träumt und auf der eigenen Website mit Unterstützung der Mutter anzügliches Fotomaterial postet, ein Junge, der sich aus der familiären Krise in ein Online-Videospiel flüchtet – es ist ein Arsenal von Figuren, die hochvernetzt den Kontakt zu sich selbst, der eigenen Sexualität und ihren Nächsten verloren haben. Dabei schärft Reitman ohne moralisierendes Zeigegefingere den Blick für die emotionalen Nöte von Eltern wie Teenagern und entwickelt daraus ein differenziertes Sittengemälde der amerikanischen Gesellschaft im Strudel des Informationszeitalters.

Jake Gyllenhaal als rücksichtsloser Bilderjäger

Zu den Verlorenen unserer Zeit, die an der Synchronisierung des eigenen Seins mit der gesellschaftlichen Realität scheitern, gehört definitiv auch die Hauptfigur in Dan Gilroys „Nightcrawler“. Jake Gyllenhaal arbeitet sich hier als Gelegenheitsdieb zum TV-Reporter hoch, der Nacht für Nacht mit der Kamera Jagd macht auf die grausamsten Bilder von Autounfällen und Gewaltverbrechen. Dabei geht es hier nicht nur um die Kritik an der blutrünstigen Medienkultur, sondern auch um die zynische Version des amerikanischen Traums. Der rücksichtslose Bilderjäger hat seine Lektion gelernt und reproduziert als Selfmademan die Heilsversprechungen von Karriereseminaren und Konzern-Websites.

Bilderdieb: Jake Gyllenhaal am Ort des Unglücks in „Nightcrawler“.
Bilderdieb: Jake Gyllenhaal am Ort des Unglücks in „Nightcrawler“.

© Concorde

Dass die ökonomische Krise den Nicht-Sozialstaat USA auch in eine moralische Krise führt, wurde in vielen Festivalbeiträgen direkt oder indirekt thematisiert. In dem klassischen Genrefilm „American Heist“ von Sarik Andreasyan schwört ein Gangsterboss seine Komplizen mit antikapitalistischen Motivationsansprachen auf einen Bankraub ein. In Jean-Baptiste Léonettis „The Reach“ wird Michael Douglas als skrupelloser Finanzmakler vor der pittoresken Wüstenkulisse New Mexicos vom Jäger zum Gejagten. Das Regiedebüt des Schauspielers Paul Bettany beschäftigt sich mit dem Leben der obdachlosen Null-Einkommensschicht in New York.

Dagegen wirken die Problemzonen der Mittelschicht, die Noah Baumbach in „While We’re Young“ abtastet, zunächst etwas profan. Ben Stiller und Naomi Watts spielen hier ein kinderloses Paar, das in Manhattan mithilfe zweier hipper Mittzwanziger die eigene Midlife-Crisis zu kompensieren versucht – ein scharf gezeichnetes Psychogramm der Generation 40plus, die an der eigenen Ent-Etablierung scheitert.

Gleich drei Biopics widmeten sich Genies

Während die einen der eigenen Existenz hinterherhinken, sind andere ihrer Zeit voraus. Gleich drei Biopics widmeten sich Genies, die auf eine ganz andere Weise nicht synchron zu den normativen Kräften der Gesellschaft leben. In Edward Zwicks „Pawn Sacrifice“ taucht Tobey Maguire in die zerklüftete Psyche des Schachspielers Bobby Fischer ab, der 1972 im mächtigen Schatten des Kalten Krieges den sowjetischen Großmeister Boris Spasski besiegte. In „The Theory of Everything“ blickt James Marsh auf die außergewöhnliche Ehe von Stephen Hawking (Eddie Redmayne) und Jane Wilde (Felicity Jones). Morten Tyldums „The Imitation Game“ erkundet das Leben und Wirken des britischen Mathematikers Alan Turing (Benedict Cumberbatch), der im Zweiten Weltkrieg die deutsche Verschlüsselungsmaschine „Enigma“ knackte und damit entscheidend zum Sieg der Alliierten beigetragen hat. Dabei wird das tragische Potenzial der Biografie im letzten Viertel allerdings viel zu kurz abgehandelt. 1952 nämlich wurde Turing aufgrund seiner homosexuellen Neigungen von einem Gericht zu einer Hormonbehandlung verurteilt und nahm sich ein Jahr später das Leben. Allen drei Filmbiografien ist gemeinsam, dass sie das außergewöhnliche Leben ihrer Figuren in konventionelle Erzählformate pressen, während sich die Hauptdarsteller tapfer um Kopf und Kragen spielen.

Moore, Witherspoon und Aniston: Weibliche Hauptdarstellerinnen auf Oscar-Nominierungskurs

Schließlich gilt das Festival in Toronto, das sich in 39 Dienstjahren zum cineastischen Mega-Event gemausert hat, traditionell als Startschuss für die Rallye um die Academy-Awards. Aber während sich in diesem Jahr keiner der Filme, die im Vorfeld kräftig Oscar-Buzz zu gerieren versuchten, wirklich als Favorit durchsetzen konnte, waren vor allem in der Kategorie „Beste weibliche Hauptrolle“ doch einige Nominierungsverdächtige unterwegs. Die furchtlose Julianne Moore zeichnet in „Still Alice“ von Richard Glatzer und Wash Westmoreland das beeindruckende Porträt einer promovierten Linguistin, die an Alzheimer erkrankt. Reese Witherspoon macht sich in Jean- Marc Vallées „Wild“ abgemagert und ungeschminkt als Wanderin auf einen 1000 Meilen langen Weg entlang der Pazifikküste, um sich den Dämonen der Vergangenheit zu stellen. Und sogar Jennifer Aniston, die jahrzehntelang als Photoshop-Version ihrer selbst von einer romantischen Komödie zur nächsten gestolpert ist, wirft in Daniel Barnz’ „Cake“ als chronische Schmerzpatientin allen Glamour entschlossen von sich.

Aber nicht nur den Oscar-Sehnsüchten des US-Kino bietet das Filmfestival in der entspannten kanadischen Multi-Kulti-Metropole einen guten Nährboden. Auch europäische Filme nutzen Toronto zunehmend als Türöffner für den amerikanischen Markt. Mit Christian Petzolds „Phoenix“, Giulio Ricciarellis „Im Labyrinth des Schweigens“ und Baran bo Odars „Who Am I – Kein System ist sicher“ feierten gleich drei prominente deutsche Produktionen hier ihre Weltpremiere. Aber auch erfahrene Arthouse-Regisseure wie François Ozon und Susanne Bier stellten ihre neuen Werke in Toronto dem internationalen Markt vor.

In „A Second Chance“ erzählt Bier die Geschichte eines Polizisten, der nach dem plötzlichen Tod seines neugeborenen Sohnes den Leichnam des Kindes heimlich gegen das Baby eines verwahrlosten Junkie-Paares eintauscht. In Filmen wie „Nach der Hochzeit“ oder „In einer besseren Welt“ haben sich Bier und ihr Drehbuchautor Anders Thomas Jensen als Meister des dramatisch verdichteten Erzählens bewiesen, aber hier überspannen sie den Bogen allzu deutlich und verlieren in der Konstruktion knallharter Plotwendungen das empathische Grundgefühl für die Figuren. Der französische Filmemacher François Ozon hingegen ist in der Transgender-Geschichte von „The New Girlfriend“ voll in seinem Element. Nach dem plötzlichen Tod seiner Frau findet der Witwer und Vater eines Babys wieder zu seiner alten Leidenschaft des Cross-Dressings zurück. Und damit beginnt ein äußerst vergnügliches, wunderschön fotografiertes Verwirrspiel über weibliche wie männliche Rollen- und Begehrensmuster, das fast schon Almodóvar’sche Qualitäten entwickelt – und den fabelhaften Romain Duris als die mit Abstand schönste Frau des Festivals präsentierte.

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