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London

© Berlinale

Bilanz: Vor der Haustür

Die Berlinale gilt als das politischste der drei großen Festivals – und macht ihrem Ruf alle Ehre. Doch was, wenn sich das Politische im Privaten findet? Bilanz eines Festivals um Umbruch

Schüchtern stehen sie am Freitagabend auf der Bühne des Delphi-Kinos, die Alltagsheldinnen aus Hans-Christian Schmids Dokumentarfilm „Die wundersame Welt der Waschkraft“. Staunen über den Enthusiasmus im Saal, schließlich arbeiten sie schlicht in einer polnischen Großwäscherei an der deutschen Grenze – und zeigt der Film doch bloß, „wie wir leben“, nämlich „langweilig“. Auch die Arbeit, knochenharte Sieben-Tage-Schicht für den Lohn eines deutschen Minijobbers: so langweilig und aussichtslos, dass die Jungen den Ort verlassen und sogar die jungen Omas nach England gehen, um ein bisschen was hinzuzuverdienen. Also, liebes Publikum in der Stadt, für deren Luxushotels wir alle 24 Stunden Bettlaken, Handtücher, Tischdecken und Gästehemden frischwaschen: Was interessiert euch so an uns?

Ein selten großer Berlinale-Augenblick, kurz vorm Finale, und ein ungemein erhellender noch dazu. Die Wäscherinnen betonen das Private, das im großen Rahmen scheinbar Beschreibungsunwürdige ihres Alltags, und zugleich hat das Publikum gerade einen der politischsten Filme des Festivals gesehen. Von der Globalisierung vor der Berliner Haustür erzählt er, von Billiglöhnen aus deutscher Hand, vom Wohlstandsgefälle im ach so offenen Europa, von der Zerstörung ganzer Gesellschaftsstrukturen durch einen Raubtierkapitalismus, der sich als menschenfreundlich tarnt. Und er tut es ohne jedes Täterätä.

Schon deshalb ist dieser Forums-Film allemal politischer als gerade die sich demonstrativ politisch gebenden Wettbewerbsbeiträge – „Mammoth“ etwa, der die globalisierungsbedingte Dekonstruktion von Familien zum Gegenstand eines pathetischen Gemäldes macht, oder auch Hans-Christian Schmids eigener „Sturm“ über die langwierige Vergangenheitsbewältigung der jüngsten Balkankriege. Weil „Die wundersame Welt der Waschkraft“ wundersam irreversibel den Blick verändert. Fortan wird man, zum Beispiel, mit ganz anderen Augen durch polnische Dörfer fahren.

Die Berlinale gilt, vor Cannes und Venedig, als das politischste unter den drei großen Filmfestivals. Aber das Etikett, das vielleicht einst ihr Alleinstellungsmerkmal war und als Markenzeichen weiter durch die Jahrgänge geschleppt wird, passt schon lange nicht mehr. Zumindest nicht in ihrem Wettbewerb, in dem sie sich am sichtbarsten auch mit der Konkurrenz misst. Zu oft hat sie dort Filme prämiert, die ihre Leitartikelträchtigkeit würdevoll vor sich herzeigen; Filme, die die Betroffenheitsreste der Schlagzeilenwelt nur neu aufkochen für Storys, die sich immer wieder der – vergangenen – Aktualität vergewissern müssen, um als ihr bedeutsames Verarbeitungsmaterial zu bestehen. „Bloody Sunday“, „In This World“, zuletzt „Tropa de Elite“ sind solch plakative Sieger. Die Jury unter ihrer Präsidentin Tilda Swinton hat gut daran getan, die sich zur entsprechend image-kommensurablen Ehrenverwertung anbietenden Titel freundlich auf die Nebenplätze zu verweisen.

Zeitgemäßes politisches Kino konzentriert sich auf scheinbar kleine Recherchefelder – und legt der individuellen Erfahrung umso wirkungsvollere Sprengsätze. Indem die Berlinale-Jury der Peruanerin Claudia Llosa („La teta asustada“) und Maren Ade („Alle Anderen“), beide Jahrgang 1976, ihre wichtigsten Preise zusprach, würdigte sie nicht nur deren ebenso sinnliche wie schmerzhafte Sondierungsarbeiten an der menschlichen Seele, sondern gerade die unaufdringliche gesellschaftliche Relevanz dieser Zweitlingsfilme. Im ersten Wettbewerbsbeitrag Perus auf einer Berlinale überhaupt werden die Traumata der nationalen Terrorgeschichte verhandelt, ohne dass sie ein einziges Mal beim Namen genannt werden müssten. Und Maren Ade erzählt in „Alle Anderen“ so durchdringend diskret und überzeugend von den Selbstständigkeitssehnsüchten und -defekten einer Zweierbeziehung, dass sich jede Zuschauerin und jeder Zuschauer mit Schmerzensgewinn auf die eigene Dysfunktionalität in Liebesangelegenheiten zurückgeworfen sieht.

Vielleicht hat sich die Jury diese Aufmerksamkeit für das Individuelle im Allgemeinen, für das Echo in uns und nicht für die Oberflächennews, an den jüngsten Entscheidungen von Cannes abgeschaut. Auch deren eminent politische Sieger kommen ohne ein Wort – oder auch Bild – der Papier-Politik aus: Laurent Cantets „Die Klasse“ verdichtete in brillanter Nachinszenierung ein gewöhnliches Pariser Mittelschuljahr zu zwei Kinostunden, und Cristian Mungiu erzählte in „4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage“ konkret von den qualvollen Umständen einer Abtreibung, ohne die dahinter stehende politische und sexuelle Repression explizit anzuklagen.

Zudem rettet die kluge Wahl der Jury das Festival zumindest für den Augenblick vor Fragen, die sich immer drängender stellen. Besteht das Besondere an der Berlinale nur mehr in ihrer Bedeutung als Publikumsmagnet, als den sie sich zu Recht gerne rühmt? Geht sie unter dem netten Direktor Dieter Kosslick nicht immer mehr in die Breite statt in die Tiefe, wofür auch sein jüngster Coup spricht? Tatsächlich hat er dem Festival mit dem Friedrichstadtpalast knapp 2000 neue Plätze erschlossen – doch dienen nicht auch sie vor allem als Massen-Auditorium für die fett geförderte, mit Stars abgepolsterte, künstlerisch bestenfalls behäbige nationale Vorzeigeproduktion, also: immer weiterer Nivellierung?

Die sich ausbreitende künstlerische Ödnis ist, ungeachtet der pointierten Einzelentscheidungen der Jury, vor allem im Wettbewerb zu beobachten, dem doch seit der Abschaffung der Sektionen -Konkurrenz das gesammelte Augenmerk aller Auswahlkommissionen gilt. Vor allem vergrößert sich der Abstand zu Cannes: Dort findet sich ein, was von internationalem Rang und auf der Höhe eigener Schaffenskraft ist – demnächst etwa Pedro Almodóvar und Ang Lee, Lars von Trier und Michael Haneke, Jane Campion und Claire Denis, die Coen-Brüder und Jim Jarmusch. Fatih Akins Hamburger Komödie „Soul Kitchen“ dürfte ebenfalls in Cannes laufen. Quentin Tarantino dreht zwar in Berlin, weil hier die Subventionsmillionen fließen, zeigt seine „Inglorious Basterds“ aber wohl auch in Cannes.

Nach Berlin gehen Regisseure dieser Kategorie eher mit Nebenwerken: François Ozon zeigte „Ricky“, während sein ungleich ambitionierterer „Swimming Pool“ in Cannes zu sehen war. Auch der noch immer quirlige Stephen Frears hatte nur das hübsche Konfektprodukt „Chéri“ dabei – der viel gewichtigere „The Queen“ lief in Venedig. Im Übrigen bleiben der Berlinale Altmeister wie Theo Angelopoulos, Chen Kaige, Bertrand Tavernier, Costa-Gavras und Andrzej Wajda: Das Festival stellt ihnen, teils außer Konkurrenz, einen Ehrensessel in den Wettbewerb. Doch ihre Goldenen Palmen, Löwen und Bären stammen aus längst vergangenen Jahrzehnten.

Und es bleiben die Debütanten. Die Thirtysomethings sind es, die diesem Festival ihren Stempel aufdrücken. Sie rissen den Wettbewerb mit ihren zarten oder provokanten Erst- und Zweitfilmen aus der dröhnenden Routine der Weltpudding-Globalisierungsfilme. Und wurden belohnt, neben den beiden Groß-Siegerinnen Adrián Biniez mit seiner Außenseiter-Romanze „Gigante“, aber auch Oren Moverman für den posttraumatischen Irakkriegsfilm „The Messenger“ und Peter Strickland für sein transsylvanisches Schauerdrama „Katalin Varga“.

Vielleicht liegt in solcher Nachwuchsförderungsarbeit, zumindest in den verbleibenden vier Kosslick-Jahren, die größte Chance der Berlinale: als Plattform für neue Namen, die sich durch den von Kosslick begründeten Talent Campus an das Festival binden und ihre ersten Filme mit Unterstützung des auch Berlinale-gefütterten World Cinema Fund finanzieren. Nur dass sie dann anderswohin davonflattern auf Nimmerwiedersehen, wie François Ozons Zauberkind Ricky, das kann nicht im Sinne eines so bedeutenden Festivals sein.

Die Wahl der Jury rettet das Festival vor drängenden Fragen – zumindest für den Augenblick

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