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Zwangsentschleunigter Landschaftspark und urbanistischer Mittelpunkt. Der Potsdamer Platz 1983 und 2006. Das linke Bild mit Mauer und Sperrgebiet stammt von einem anonymen Fotografen, das rechte hat Jürgen Homuth mit seinem Spezial-Fesselballon aus 60 Metern Höhe gemacht. Fotos: Nicolai Verlag/ullstein bild, Jürgen Homuth

© ullstein - ullstein bild

Bildband: Vollendung ausgeschlossen

Stadtgeschichte von oben: ein Bildband versammelt Berliner Luftaufnahmen aus hundert Jahren.

Städte, so lautet eine weit verbreitete Vorstellung, wachsen organisch. Ihre Existenz beginnt im Zentrum, von dort aus entwickeln sich alle Straßenzüge und Baufluchten. Hochgeklappt müsste der Grundriss einer solchen Idealstadt an den Schnitt durch einen Baumstamm mit seinen gleichmäßig angeordneten Jahresringen erinnern. Bamberg, Freiburg, Trier oder Regensburg haben tatsächlich große Teile ihres mittelalterlichen Weichbildes durch die Zeiten retten können, in der Fernsicht erscheinen sie noch heute wie Inkarnationen der frühneuzeitlichen Merian-Kupferstiche, bei denen die Stadtmauer das urbane Gefüge umfasst wie die Borke den Baum. Doch die wirklichen, die großen Städte – das weiß jeder, der schon einmal mit dem Flugzeug in einer solchen gelandet ist – ähneln von oben eher Flickenteppichen, zusammengestückelt aus einem In- und Nebeneinander von Straßen, Brachen, Wohngebieten, Parks und Industrieanlagen, von Planung und Anarchie.

„Zäsuren, nicht Kontinuitäten“ seien charakteristisch für die Entwicklung der großen Metropolen, sagt der Kunst- und Fotohistoriker Enno Kaufhold. Das gilt für London, Paris und Moskau, aber in besonderer Weise trifft diese Diagnose auf Berlin zu, das in den letzten zweihundert Jahren seine Gestalt so oft und so radikal wandelte wie vielleicht keine andere europäische Stadt: von der beschaulichen preußischen Residenzstadt über die boomende Industrie- und Verwaltungsmetropole der Kaiserzeit zum „Großberlin“ der zwanziger Jahre mit seinen modernistischen Experimenten, von den gigantomanischen „Germania“–Planungen in der NS-Zeit über die aus Kriegsruinen wiederauferstandene, gleich doppelt zum Vorzeigemodell ausgebaute Zwillingsstadt der Teilungsära zur wiedervereinigten Kapitale nach 1989, die noch immer ein architektonisches und gesellschaftliches Labor ist. Vollendung ausgeschlossen.

Alle diese Epochen haben in den zentralen Arealen der Stadt – wie Schlossplatz, Gendarmenmarkt, Potsdamer und Leipziger Platz oder Alex – ihre Spuren hinterlassen. Vielleicht besser gesagt: Spurenelemente. Denn erstaunlich ist, wie wenig es sind. Als sei die Stadt eine gigantische Schiefertafel, auf der immer wieder gleichsam über Nacht alles Alte weggewischt würde, um Platz zu machen für das Neue.

Berlin sei „dazu verdammt, immer nur zu werden, aber niemals zu sein“. Der Befund, den der Kunstpublizist Karl Scheffler vor genau 100 Jahren in seinem Buch „Berlin. Ein Stadtschicksal“ formulierte, ist beinahe zu Tode zitiert worden. Aber nun liefert Enno Kaufhold mit einem vorzüglich kommentierten, enzyklopädisch detailreichen Bildband sozusagen das Anschauungsmaterial für die These nach. Es ist eine Geschichte der Stadtentwicklung von oben. Sechs Jahre lang hat der Historiker, der derzeit an der Ostkreuz-Fotoschule lehrt, in Institutionen wie dem Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, dem Stadtmuseum, dem Ullstein-Bildarchiv und dem Landesarchiv alle verfügbaren Berliner Luftaufnahmen aus den letzten 100 Jahren gesichtet.

Aus diesem Material komponierte er dann für neun markante Orte, „Brennpunkte der Entwicklung“ – von der Stadtmitte um Alexanderplatz und Nikolaiviertel über das Regierungsviertel bis zum Messegelände –, visuelle Chronologien des Um- und Neubaus. Ergänzt werden die historischen Ansichten durch Luftbilder, die der Fotograf und Mitherausgeber Jürgen Hohmuth in den letzten Jahren gemacht hat und die es in ihrer malerischen Pracht mit den besten ihrer Vorläufer aufnehmen können. Schade nur, dass eine geplante Ausstellung bislang aus Kostengründen nicht zustande kam.

Das Buch trägt den programmatischen Titel „Berlin Zeitsprünge“. Denn für Zwischenstadien interessieren sich die Herausgeber weniger als für die Dokumente abgeschlossener Bauphasen. Kriegstrümmer, Abriss- und Bauarbeiten kommen selten vor. Stattdessen: die permanente Metamorphose. So wundert sich der Betrachter, dass er tatsächlich über den Zeitraum eines Jahrhunderts immer wieder in einen eng begrenzten Ausschnitt derselben Stadt blickt – und nicht jedes Mal in eine andere Stadt. Der Potsdamer Platz, Synonym für die Rasanz der Berliner Umbrüche, war bis 1945 Hauptverkehrsknotenpunkt sowie Standort von Luxusherbergen, – bars und -kaufhäusern und in der Tabula-rasa-Situation der Teilung eine Art zwangsentschleunigter Landschaftspark mit durchlaufender Mauer. Heute ist er, dank der neuen Hochhausbebauung, auf dem Weg zurück zur alten urbanistischen Verdichtung.

Und die Bilder vom Pariser Platz fügen sich beinahe zu einem Kurzfilm, bei dem Anfang und Ende einander ähneln, ein Daumenkino über alle Krisen und Systemwechsel hinweg. Die barocken Stadtpalais und wilhelminischen Botschaften, das prachtvolle Adlon-Hotel fallen im Krieg in Schutt und Asche, werden zu Sperrgebiets-Zeiten vollständig abgeräumt und feiern nach 1989 in der Form von historisierenden Neubauten Wiederauferstehung. Nur das Brandenburger Tor trotzt allen Stürmen. Auf den Schwarzweißfotos der Vorkriegsjahre hat der hindurchfahrende Großstadtverkehr seine Spuren in Form von schwarzen Abriebstreifen aufs Pflaster gemalt. 1928, auch das erfährt man im Buch, sind in Berlin bereits 54 000 Kraftfahrzeuge angemeldet.

Auf Luftbilder aus totaler Draufsicht, die als Vorlage für Kartografen dienten, hat Kaufhold, Spezialist für den Fotojournalismus der 20er Jahre, verzichtet. Er bevorzugt Aufnahmen aus der Schrägsicht mit oft reportageartigem Charakter. Das älteste Bild entstand um 1889 und zeigt einen bräunlich verschwommenen Rundblick über das Stadtzentrum vom Humboldthafen und dem im Bau befindlichen Reichstag bis zum Stadtschloss. Es stammt vom Ballonflugpionier Hugo vom Hagen, der seine in großer Höhe gemachten Panoramen bereits in Serien auflegte. Allerdings sind Ballons nur eingeschränkt manövrierfähig, gezieltere Aufnahmen waren erst mit dem Flugzeugverkehr ab 1910 möglich.

In den Zwischenkriegszeit boomt die Fotografie aus Propellermaschinen und Zeppelinen, das „Neue Sehen“ begeistert sich für ungewöhnliche Perspektiven. Der „Weltbühne“-Filmkritiker Rudolf Arnheim schwärmt 1929 über zwei Bände mit Berliner Luftaufnahmen: „Das Luftbild, die fleischgewordene Landkarte, zeigt die Stadt aus der Perspektive eines göttlichen Wesens, das Sinn und großen Zusammenhang sieht, wo uns jede dürftige Mauer den Blick auf das Ganze versperrt.“

Nach derlei metaphysischen Überhöhungen kehrt Jürgen Homuth mit seinen Luftbildern von heute zurück zum Anfang der Entwicklung. Er fotografiert aus einem sieben Meter langen, zwei Meter breiten Heliumballon, an dem seine Kamera hängt. Gesteuert wird die „Luftzigarre“ per Kabel vom Boden aus. So entstehen Aufnahmen aus 60 Meter Höhe – Flugzeuge und Hubschrauber dürfen nicht niedriger als 300 Meter fliegen –, auf denen etwa die Victoria auf der Siegessäule zum Greifen nah erscheint. Der Engel der Geschichte steigt hinab zu uns Sterblichen.

Enno Kaufhold, Jürgen Hohmuth: Berlin Zeitsprünge. Die Entwicklung der Stadt, Nicolai Verlag, 192 S., 39,90 €. – Am morgigen Dienstag beginnen wir mit unserer Serie „Lebensadern“, die die Berliner Stadtentwicklung anhand von Geschichten über einige ausgewählte Straßen schildert.

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