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Bildung: Chancengleichheit unerwünscht

Schule, von Grund auf falsch: Warum Kinder aus sogenannten bildungsfernen Schichten systematisch ausgegrenzt werden.

Bildungsferne Kinder sind auf Zufälle angewiesen, um der Bildung nahezukommen, etwa darauf, in der Grundschule „entdeckt“ und gefördert zu werden. Während die Gymnasialempfehlung für Akademikerkinder die Regel ist, ist sie bei bildungsfernen Kindern die Ausnahme, die durch besondere Begabung gerechtfertigt werden muss. Wenn durchschnittlichen Kindern aus bildungsfernen Familien die gleichen Chancen eingeräumt werden wie durchschnittlichen Kindern aus bildungsnahen, grenzt das schon an ein Wunder.

Der Ungleichheit im Ganzen der Gesellschaft entspricht die Gleichmacherei in den Binnenmilieus der gesellschaftlichen Eliten. Mit Sorgfalt achtet man darauf, dass von denjenigen, die qua Geburt dazugehören, keiner zu kurz kommt, während die Abschließung gegen diejenigen, die aus dem gleichen Grund nicht dazugehören, fester und fester wird. Die Zugehörigkeit zur Elite wird nicht oder nur selten durch herkunftsunabhängige Leistung errungen, sondern sozial vererbt.

Dementsprechend hat die schulische „Selektion“, wie dieses scheußliche Rampenwort der Pädagogik lautet, keineswegs die Aufgabe, begabte Kinder zu entdecken und sie für Führungspositionen vorzubereiten. Vielmehr gelten Kinder von Eltern in Führungspositionen automatisch als begabt und schon für Höheres bestimmt, bevor sie das erste Wörtlein über die Lippen bringen. Die Reproduktion von Ungleichheit ist kein Versehen des Bildungssystems, wie die Gutherzigen glauben und die Hinterlistigen wider besseres Wissen glauben machen wollen, sondern ein wesentlicher Teil seiner Aufgabe.

Dass im deutschen Bildungssystem „Auslese“ nicht der Begabungsförderung dient, sondern als kontinuierlicher Benachteiligungsprozess organisiert ist, lässt sich am Beispiel geschlechtsspezifischer Diskriminierung veranschaulichen. Als ich 1963 eingeschult wurde, betrug der Anteil der Mädchen an der Bevölkerung 49 Prozent, ihr Anteil an den Überwechslern in (irgendeine) höhere Schule 41 Prozent, ihr Anteil an den Abiturienten 36 Prozent, an den Studienanfängern 28 Prozent und an den Examinierten 17 Prozent.

Heute liegt der Anteil der jungen Frauen an den Schulabgängern mit Hochschulreife in den meisten westdeutschen Bundesländern mit Ausnahme Bayerns zwischen 52 und 60, in den neuen Bundesländern sogar über 60 Prozent. Bei den Studierenden sind es 46 Prozent. Die Forcierung der Diskriminierung beginnt mit dem Übergang ins Berufsleben. Bei Juniorprofessuren und Habilitationen beträgt der Frauenanteil nur noch 15 Prozent.

In den sechziger Jahren gab es Äußerungen, in denen die Tatsache, dass 49 Prozent der Bevölkerung, aber nur 17 Prozent der fertig Studierten weiblich waren, als Beweis femininer Minderbegabung hingestellt wurde. Heute ist die strukturelle Benachteiligung der Mädchen im deutschen Schul- und Hochschulwesen überwunden, jedenfalls was die Lage vor dem Berufseintritt angeht, und die Behauptung einer geschlechtsbedingten geistigen Minderbemittlung würde nicht einmal mehr als Ideologie ernst genommen, sondern bloß noch als ordinäre Dummheit belacht.

Im Unterschied dazu gilt die Idee von der sozial bedingten geistigen Minderbemittlung weder als ordinär noch als dumm. Sie wird von Intelligenztestern und Begabungsforschern ernsthaft diskutiert und von einem aggressiv auf seiner Bevorzugung beharrenden Akademikermilieu halb mitleidig, halb herablassend gegen die Bildungsfernen in Stellung gebracht. Die Einsichten der Sozialisations- und Bindungsforschung in die Folgen einer defizienten frühkindlichen Erziehung werden seit der „Entzifferung des genetischen Codes“ mehr und mehr überlagert von einer bizarren Renaissance des Erbgutgedankens.

Dabei haben die meisten keine Ahnung, was es mit dieser angeblichen „Entzifferung“ oder mit dem „genetischen Code“ auf sich hat. Selbst Genetiker und Entwicklungsbiologen, betont der Hirnforscher Gerhard Roth, wissen nicht genau, „was ein Gen oder eine Gruppe von Genen etwa für die Leistungen des Gehirns bedeuten, insbesondere im Hinblick auf komplexe kognitive und emotionale Eigenschaften des Individuums.“

Dennoch wird von Begabungen schwadroniert, die „in den Genen liegen“. Dem Buch, das der genetische Code sein soll, vermeinen die Bildungsnahen entnehmen zu können, warum die Bildungsfernen keine Bücher lesen. Mutter Natur legt den Kindern der Bildungsnahen die Zugangsvoraussetzungen zur Alma Mater schon in die Wiege, und im Umkehrschluss der Selbstrechtfertigung wird so getan, als wäre die Tatsache, dass jemand studiert, der Beweis für die genetische Disposition zum Akademikerdasein. Die Bildungsaristokratie vererbt Begabung wie früher der Adel blaues Blut.

Manchmal ist unter den biologistischen Diskursgletschern der Gegenwart der faschistische Unterstrom der Vergangenheit zu hören, und in der einen oder anderen hippen genetischen Begriffspuppe steckt die Mumie der Lehre von der erblichen Überlegenheit (sei es einer Rasse, sei es einer Klasse).

Dumme Ratten sind dumm, kluge sind klug. Das wurde in Laborversuchen bewiesen. Forscher, denen Tiere anvertraut wurden, denen (grundlos) besondere Geschicklichkeit attestiert worden war, erzielten bei Dressurexperimenten mit ihren animalischen Zöglingen deutlich bessere Ergebnisse als Forscher, die mit (grundlos) als weniger lernfähig etikettierten Tieren arbeiten mussten. Die Lösung des Rätsels liegt in der fördernden Sympathie, die den „hochbegabten“ weißen Mäusen im Unterschied zu ihren angeblich minderbegabten Artgenossen zuteil wurde. Wenn also Gymnasiallehrer der Illusion anhängen, sie hätten es mit einer nach Leistungsfähigkeit vorausgewählten Schülerschaft zu tun, hat das bevorteilende psychologische Rückstoßeffekte auf die Bevorteilten und benachteiligende auf die Benachteiligten. Auch hier schließt sich der Kreis der Begabungstautologie: Dumme Schüler sind dumm und kluge sind klug.

Die Meinungen darüber, was unter Begabung zu verstehen sei, sind häufig so einfach gestrickt, dass sie an der Begabung derjenigen, die sie vertreten, ernsthafte Zweifel hervorrufen. Es läuft immer darauf hinaus: Wo ich bin, ist Begabung – wo Begabung ist, bin ich. Meine Kinder sind begabt, also gehen sie aufs Gymnasium – meine Kinder gehen aufs Gymnasium, also sind sie begabt. Damit ist der Gedanke, falls man das so nennen kann, bereits zu Ende geführt. Nicht einmal der Unterschied zwischen Leistung und Begabung wird thematisiert. Auch weniger Begabte können gute Leistungen erbringen, wenn sie es verstehen, durch Willenskraft und Fleiß Defizite auszugleichen. Und Hochbegabte können miserabel sein beim Abliefern von Leistungen. In der Forschung werden sie underachiever genannt und auf 10 bis 15 Prozent der Hochbegabten geschätzt. Kein Wunder, dass bei Akademikern, die ein Kind haben, das auf dem Gymnasium versagt, der „Gedanke“ naheliegt, ihre Tochter oder ihr Sohn sei noch begabter als sie selbst: hochbegabt – underachiever.

Eines der Hauptprobleme unseres Bildungssystems besteht in der Vernachlässigung des Entdeckens und Entwickelns von Potenzialen. Dem müsste mehr diagnostische Aufmerksamkeit und mehr pädagogische Sorgfalt gewidmet werden. Das hätte weitreichende Folgen für die Leistungskultur in allen Schulen und für die Ermutigung aller Schüler. Beispielsweise ist es ein Unterschied, ob gegebene beziehungsweise erreichte Leistungsniveaus gemessen werden oder stattdessen Leistungsfortschritte bezogen auf den Ausgangspunkt. Wer ist bei gleichem Leistungsniveau begabter: ein Schüler, der dieses Niveau von einer guten oder von einer schlechten familiären Ausgangsposition her erreicht? Bei gleichen Leistungen müssten Schüler aus bildungsfernen Familien denen aus Akademikerfamilien vorgezogen werden, weil sie diese Leistungsgleichheit nur durch höhere individuelle Begabung oder stärkere Motivation erlangen konnten. Stattdessen werden Schüler aus bildungsfernen Familien bei gleichen Leistungen benachteiligt – eine doppelte Ungerechtigkeit.

Der Text ist die gekürzte Fassung eines Kapitels aus Bruno Preisendörfers Buch „Das Bildungsprivileg. Warum Chancengleichheit unerwünscht ist“, das Anfang Februar im Eichborn Verlag erscheint.

Bruno Preisendörfer

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