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BIOGRAFIE: „Ich will radikaler werden“

Vor der „Antigona“-Premiere: Regisseurin Vera Nemirova über böse Opernschlüsse und das Licht der Aufklärung

Frau Nemirova, auf der Suche nach einem Regisseur für eine unbekannte Barockoper wie Traettas „Antigona“ ist Ihr Name nicht gerade der erste, der einem einfällt.

Ehrlich gesagt, wollte ich’s am Anfang auch gar nicht machen.

Mögen Sie keine Alte Musik?

Doch! Aber mein Hauptbetätigungsfeld liegt nun einmal im 19. Jahrhundert und in der Neuen Musik – und momentan ganz stark bei Wagner wegen des Frankfurter „Rings“.

Gerade bei einem solchen Mammutprojekt könnte das 18. Jahrhundert doch kathartisch wirken: Es fließt eine andere Musik durch einen hindurch, eine andere musikdramatische Ästhetik – und plötzlich lösen sich die Schlacken der Wagnerei.

Die Schlacken verbitte ich mir natürlich, aber Sie haben schon Recht: Man muss abtauchen können. Von René Jacobs …

… dem Dirigenten der „Antigona“ …

… habe ich etwas Tolles erfahren. Ohne die „Antigona“, sagt er, hätte es Mozarts „Idomeneo“ nie gegeben. Man arbeitet hier sozusagen an Mozarts Wurzeln, und da ist es für mich natürlich wunderbar, dass ich direkt im Anschluss in Mainz „Idomeneo“ inszenieren werde.

Ein Wink des Schicksals?

Schicksal finde ich 2011 eine seltsame Kategorie. So wie die der Vernunft, für die Traettas „Antigona“ sich so stark macht, mit viel Klugheit und Psychologie und enorm großem formalen Wagemut. Wohin hat uns unsere Vernunft denn schon gebracht? Wobei es sehr schön ist, mit welcher Kühnheit und Eleganz Traetta die Gesetze der Opera seria aushebelt und unterläuft. Der war ein radikaler Reformator, eigentlich müsste man ihn mit Gluck in einem Atemzug nennen.

Und warum tun wir das nicht?

Weil er lange am russischen Zarenhof in St. Petersburg gelebt hat? Das war für einen Italiener schon ziemlich exotisch. Katharina der Großen verdanken wir ja auch den Wunsch nach einem glücklichen Ende des Stücks. Sophokles’ „Antigone“ – und ein Happy End? Kreon, der Antigone eben noch steinigen lassen wollte, ein guter Mensch? Das kann ich nicht glauben. Und die Musik auch nicht, die Schnittstelle am Ende, wo Traetta aus dem dramatischen Fluss aussteigt, ist sehr deutlich.

Im 18. Jahrhundert war das „lieto fine“, das Happy End, Konvention. Heute gehört es zur Regiekonvention, daran zu zweifeln.

Aber die Figuren spielen sich hier doch total kaputt! Eine Frau wird lebendig eingemauert, ihr Bruder soll den Raben zum Fraß vorgeworfen werden, ihr Geliebter will sich umbringen – und dann heißt es Tralala, war alles nicht so gemeint? Nee. Das muss man als Utopie begreifen und in seiner Gebrochenheit. Vielleicht wünschen wir uns oft, dass alles wieder gut wäre, und Traetta sagt, ja, ja, so könnte es sein, wenn wir anders miteinander umgehen würden. Die Realität sieht trotzdem anders aus, und das zeigen wir auch.

In „Antigona“ geht es um lauter letzte Dinge: Schuld, Macht, Liebe. Welche Mittel hat die Opernbühne heute dafür?

Man muss wissen: Das ist kein Todesstück, das ist ein die Liebe bejahendes, ein Lebensstück. Mir geht es darum, zwischen den Figuren authentische menschliche Beziehungen herzustellen. Deswegen ist unser Raum auch sehr reduziert, da gibt es faktisch nichts, keine Videos, keinen Budenzauber, nur einen Thron. Die Bestattung des toten Bruders ist für Antigona nicht nur ein Akt des Mitleids. Es ist in die Aufarbeitung einer Schuld: Sie, die Tochter des Ödipus, kämpft für ihr Recht auf Identität und Anerkennung, wenn nicht unter den Lebenden, so wenigstens im Reich der Toten. Und das ist keine rein private Geschichte, sondern ein Beispiel für den gesellschaftlichen Umgang mit der Vergangenheit und ihren Verbrechen. Darin besteht die Provokation, und das ist auch das Aktuelle an diesem Stück.

Wo spielt es bei Ihnen: im bürgerlichen Wohnzimmer, im KZ, in Afghanistan?

Man braucht keine Verortung, im Gegenteil. Anfangs, in der Phase der Materialfindung und Inspiration, haben wir uns viele Bilder aus dem Iran angeschaut, und die haben Spuren hinterlassen, etwa im Umgang mit dem Licht, aber nichts Konkretes. Außer ein Foto: Da demonstrieren Frauen gegen Steinigungen, indem sie sich eingraben und die Hände heben. Diese Szene findet sich in ähnlicher Weise auch in der Aufführung. Es war toll, wie der Frauenchor der Staatsoper das begriffen und umgesetzt hat. Überhaupt kann ich diesen Chor nur in den höchsten Tönen loben, das sind lauter offene, interessierte, super professionelle Sängerdarsteller.

Sie haben in Berlin 2002 an der Deutschen Oper mit Puccinis „Fanciulla del West“ debütiert, da fing das Theater draußen auf der Bismarckstraße an. Mögen Sie die Inszenierung noch?

Hm, das war ziemlich aufwändig. Ich denke, ich bin seit einiger Zeit in einer radikaleren Richtung unterwegs. Ich suche die Reduktion, die Abstraktion. Ich will zurück zu den Figuren, zurück zum singenden Menschen. Ich brauche nicht mehr so viel interpretatorisches Beiwerk, und ich hasse es, wenn ich außer Technik und Projektionen nichts mehr sehe. Auch bei Wagner ist unsere Bühne nahezu leer, jedenfalls ist Wotan nicht der Chef der europäischen Zentralbank, nur weil wir in Frankfurt am Main sind. Ich denke, ich stehe an einer sehr spannenden Weggabelung. Wie geht es weiter mit dem Musiktheater?

Sprechen Sie da für Ihre Generation? Sie sind 38, haben über 40 Opern inszeniert und gelten als eine der erfolgreichsten Schülerinnen Peter Konwitschnys.

Natürlich werde ich mich immer zu meiner künstlerischen Heimat bekennen, zu Konwitschny, auch zu Ruth Berghaus, bei der ich noch gelernt habe. Aber man entwickelt sich, sucht neue Wege, wird älter.

Sind Dirigenten auf diesem Weg eher hilfreich oder eher hinderlich?

Extrem hilfreich natürlich, wobei Sebastian Weigle, der den Frankfurter „Ring“ dirigiert, und René Jacobs in ganz verschiedenen Welten zu Hause sind, um zwei aktuelle Beispiele zu nennen. Jacobs versteht sich in einem sehr strengen Sinn als Sachwalter der Musik, und das ist auch gut so, zumal kaum jemand die „Antigona“ kennt. Was das Finale betrifft, sind wir oft heftig aneinandergeraten, haben viel diskutiert, und ich habe immer wieder versucht, ihn zu überzeugen.

Ist es Ihnen gelungen?

Auf eine Weise, ja, sonst würde er nicht mitmachen. Aber er wollte gerne das gute Ende. Er ist da Idealist, während ich denke, eine Arie wie Antigonas „Non piangete“ (Weint nicht um mich), die klingt so ungeheuer tröstlich und versöhnlich, die strahlt so viel zärtlicher, schöner und milder als alles blendende, blind machende „Licht der Aufklärung“. Solche Inseln der Einkehr bei sich selbst sind für mich die wahren utopischen Momente.

Das Gespräch führte Christine Lemke- Matwey.

Vera Nemirova wurde 1972 in Sofia/Bulgarien geboren und kam als Tochter einer Opernsängerin mit zehn Jahren nach Deutschland. Sie studierte an der Berliner Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Regie, u. a. bei Ruth Berghaus und Peter Konwitschny. Ihr Debüt mit der

„Gräfin Mariza“ in Wien folgte eine steile Karriere. Im vergangenen Sommer arbeitete Nemirova erstmals bei den Salzburger Festspielen („Lulu“). An der Frankfurter Oper hat ihre hoch gelobte Inszenierung von Wagners „Ring des Nibelungen“ gerade Halbzeit.

Am Sonntag stellt sich Nemirova mit Tommaso Traettas „Antigona“ an der Berliner Staatsoper im Schiller Theater vor. René Jacobs dirigiert, es spielt die Akademie für Alte Musik Berlin, und es singen unter

anderen Veronica Cangemi, Bejun Mehta und Kurt Streit.

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