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Kultur: Black Box Italien

So politisch war das Kino am Lido schon lange nicht mehr: Heute werden beim 60. Filmfestival in Venedig die Löwen verliehen

Der Fall Aldo Moro, 25 Jahre alt, ist für die Italiener bis heute ein Trauma. Er markiert nicht nur, wie die Ermordung von HannsMartin Schleyer im „Deutschen Herbst“ 1977, das blutige Ende aller 68er-Revolutionsträume, er hat auch das Vertrauen der Italiener in ihren Staat nachhaltig untergraben. Die 55 Tage Gefangenschaft ohne jeden Verhandlungsversuch von staatlicher Seite und die Erschießung des Chefs der Democrazia Cristiana: Den konservativen Kräften, auch den Geheimdiensten, kam dieser Mord durch die Roten Brigaden durchaus zupass – schließlich hatte der auf Stabilisierung setzende Moro die starken Kommunisten im Lande fast regierungsfähig gemacht. Erst im November 2002 wurde der damalige Premier Andreotti zu 24 Jahren Gefängnis verurteilt: Er hatte 1979 einen Journalisten töten lassen, der offenbar zu viel über die politischen Hintergründe des Falls wusste.

Eine solch finstere Vergangenheit bewältigt die Zeit nicht allein. Bücher noch und noch wurden in Italien über den „Caso Moro“ veröffentlicht, und nun hat Marco Bellocchio eine Art Schlussstrich-Film gedreht: „Buongiorno, Notte“ (Guten Morgen, Nacht) stützt sich auf den Bericht „Der Gefangene“ von Anna Laura Braghetti, die Moro zusammen mit drei männlichen Brigatisti in einer Wohnung in Rom gefangen gehalten hatte. Aber er stützt sich nur sehr lose darauf. Er hebt lieber gleich ab. Und wagt es – mit einem Traum der reumütigen Terroristin, die ihre Mitpeiniger vergiftet und Moro befreit -, die Zeitgeschichte zumindest für einen Augenblick auf den Kopf zu stellen. Der Terrorismus ist tot. Es lebe Aldo Moro!

Legende vom Vatermord

An diesem Film wird und will die Jury des Festivals von Venedig, der der hochvitale 88-jährige Regisseur Mario Monicelli vorsitzt, bei der Preisverleihung am heutigen Sonnabend wohl kaum vorbeikommen. Nicht nur, weil er eine originelle, allerdings auch sehr katholisch-italienisch-familiäre Reduktion des eminent politischen Ereignisses betreibt; sondern auch weil er für den unerwartet imponierenden Auftritt italienischer Regisseure steht, die das ohnehin dieses Jahr sehr politisch geratene Festival prägten. Erst hatte sich Paolo Benvenuti, wenn auch arg kriminologisch-aktenkundlerisch, an der Rekonstruktion eines Massakers in Sizilien 1947 versucht, dessen politisch Leidtragende damals schon die Kommunisten waren; dann kam Bernardo Bertolucci mit „The Dreamers“ und seinem erotisch-romantischen Blick auf die Anfänge von 1968. Bellocchio nun zieht ästhetisch wie ideologisch die Summe: Das politische Material wird privatistische Spielmasse – und umgekehrt.  

„Buongiorno, Notte“: ein Kammerspiel. Eine Familientragödie. Ein Vatermord. Kinder setzen ihren milden, ja fast heiligen Übervater fest und machen ihm den Prozess. Mehr interessiert Bellocchio, der den Film seinem eigenen Vater widmet und den echten Heiligen Vater, damals Papst Paul VI., ausführlich ins Bild bringt, eigentlich nicht. Das ist insofern schwach und auch geschichtsversimpelnd, als der Regisseur die politischen Intrigen jener Wochen völlig ausblendet zugunsten eines einzigen überwältigenden Mitleids; andererseits entwickelt der Film gerade daraus seine hypnotische Suggestivkraft. 1968, sagen die Bilder immerzu, mag der Aufstand der Jungen gewesen sein, die ihre Väter überwinden wollten – aber der Preis des Mordens war dafür zu hoch. Und sie sprechen ihr ebenso leises wie dramatisches Urteil: Wer seinen Vater tötet, der bringt sich selber um.

Vor zehn, zwanzig Jahren wohl hätte er noch als reaktionär gegolten, dieser totale Sieg der Alten über die Jungen, den der heute 64-jährige, konservativ geprägte Bellocchio da inszeniert. Heute können die Nachgeborenen, selber der Black Box Italia oder BRD entwachsen, großzügiger sein. Zumal es ganz andere Blicke auf den schmerzhaften Staffelstabwechsel der Generationen gibt, auch im Kino. Mit „Vovrascenie“ (Die Rückkehr) hat sich der einzige Erstlingsfilm des Wettbewerbs und zugleich einzige russische Beitrag weit nach vorn ins Favoritenfeld um den Goldenen Löwen geschoben – und Andrej Zvyazgintsevs archaische Geschichte um einen Vater, der  nach zwölf Jahren Abwesenheit plötzlich wie ein Schicksalshieb über die beiden halbwüchsigen Söhne kommt, lässt sich durchaus als Metapher auf das heutige Russland lesen.

Auf eine Reise zu dritt geht es, irgendwo in den hohen Norden des Landes, kaum ist der Vater (Konstantin Lavronenko) zurückgekehrt aus einem Irgendwo. Und für die Söhne Andrej (Vladimir Garin) und Ivan (Ivan Dobronravov) wird diese Reise bald zu einem Kampf um Anerkennung, um Liebe, ja, ums Überleben. Auch der Vater benutzt diese Fahrt in eine Stadt, an ein Seeufer, schließlich auf eine menschenleere Insel, um die Widerstandskraft der Söhne auf die Probe zu stellen. Nur: Er überschätzt sich. Er setzt auf die verbriefte, unverlierbare Vatermacht, die Macht der Gewalt. Und verliert. In einer dramatischen Szene an diesem kalten, windigen Ende der Welt treibt er seinen kleineren, mutigeren Sohn fast zur Entscheidung zwischen Mord oder Selbstmord. Und dann löst sich doch, was sich lösen muss, in einem Unfall.

Erziehung ist ein Prozess, kein Instant-Privileg, das man exekutiv nutzen kann, wann es einem passt, sagt dieser Film; aber das allein wäre noch zu wenig. Er meint auch: Erfahrung ist unumkehrbar, besonders die Erfahrung von Freiheit. Und wird damit politisch, indem er Partei für die Jungen ergreift in einem Konflikt, in dem die alten Regeln wieder hergestellt werden sollen. Vatermacht, auch Staatsmacht, funktioniert nicht totalitär, es sei denn, sie bricht den Willen ihrer Opfer von Anfang an. In einer freien Gesellschaft muss sie sich rechtfertigen. Der Vater in „Die Rückkehr“, imponierend stark und autark, mag zwar alles verkörpern,  wonach sich diese wilden, losen Kinder gesehnt haben. Nur begreift er den Widerstand nicht, den seine Person herausfordert, und das wird ihm zum Verhängnis.

Nun hatte der an politischen und zeitgeschichtlichen Stoffen reiche, insgesamt anregende Wettbewerb auch Schwächen. Auch und gerade dort, wo er das Politisch-Historische fokussiert. Den Tiefpunkt markiert Christopher Hamptoms „Imagining Argentina“ über die Verschwundenen der Militärdiktatur und die demonstrierenden Frauen der Plaza de Mayo (wodurch Margarethe von Trottas zuvor gezeigte „Rosenstraße“ noch einmal Gewicht bekam). Antonio Banderas, mit grotesk gegen null tendierenden Ausdrucksfähigkeiten, spielt einen Theaterchef, der die Lage von Gefolterten – darunter seiner tapfer chargierenden Frau (Emma Thompson) – herbeizuhalluzinieren versteht. So gerät das gut gemeinte Werk bald zu unfreiwillig komischer Folterszenen-Augenausweiderei.

Märchen vom Samurai

Der Pole Jan Jakub Kolski steuert ein theaterkulissenhaftes, mit Historienhorror gesprenkeltes Landidyll aus den späten Kriegsjahren bei („Pornografia“). Und die libanesische Regisseurin Randa Chahal Sabbag begnügt sich in „Der Drachen“ – der Geschichte um eine junge Araberin, die sich in einen israelischen Soldaten verliebt und nicht anderweitig verheiratet werden will – mit einer Art Barbiepuppen-Romanze. Große Zeitkonflikte sind  tückisch: Sie können eine kleine Geschichte riesig machen – oder zerstören.

Die beiden iranischen Filme in der Parallelsektion „Controcorrente“ machten eher durch die nach wie vor skandalöse iranische Zensur als durch ihre Qualität von sich reden. Abolfazl Jalili wurde am Flughafen von Teheran daran gehindert, mit seinem Film „Abjad“ (Der erste Brief) selbst nach Venedig zu kommen. Es geht um den etwas bilderbogenhaft geratenen, autobiografischen Alltagskampf eines tapferen Teenagers in der Vor-Khomeini-Zeit gegen die Macht des Vaters, des Staates, des Islam. Babak Payami wiederum war selbst am Lido – nur hatte er statt des fertigen Films, den die iranischen Behörden wohl vernichtet haben, eine schlechte Arbeitskopie für den Tonschnitt seines „Sokoote Beine do Fekr“ (Schweigen zwischen zwei Gedanken) dabei.

Ein Mädchen, noch Jungfrau, soll erschossen werden – aber da Jungfrauen in den Himmel kommen, muss der junge Exekutor sie noch schnell heiraten und entjungfern, so befiehlt es der oberste religiöse Terrorvater des entlegenen Dorfs. Immerhin: Es ist dann der Clan-Chef selbst, der zum Teufel gejagt wird, und sein unglücklicher Todesschütze dazu. Nur vermitteln die verwaschenen Bilder kaum mehr etwas von der Wucht, die dieser Geschichte innewohnen könnte.

Aber vielleicht wird alles anders. Und Takeshi Kitano, der große, diesmal heitere Regisseur des japanischen Kinos, lässt sie alle hinter sich. Mit der ebenso souverän fotografierten wie montierten Legende vom alten, blinden Samurai, der alle, aber auch wirklich alle Banden-Finsterlinge einer kleinen Gemeinde exterminiert, zeigte Kitano mit „Kitaichi“ den leichtesten Film des Festivals. Noch eine Vaterfigur, dieser Samurai, den Kitano mit blond gefärbtem Haar selber spielt. Oder besser: ein Opa, endlich. Und alles wird gut.

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