zum Hauptinhalt

Kultur: "Blackbox": Der Auftakt zu Benjamin von Stuckrad-Barres Lesemarathon im Columbiafritz

Solche Texte müssen aufgeführt werden. Abdrucken reicht nicht.

Solche Texte müssen aufgeführt werden. Abdrucken reicht nicht. Man möchte hören, wie sich der alte Mann am Telefon Sorgen macht über das Sexualleben von Sigrid Löffler und das Anschwellen der eigenen Auflagenzahlen. Auch die Worte, mit denen Ernst-August von Hannover, ebenfalls am Telefon, einer "Bild"-Redakteurin analen und vertikalen Geschlechtsverkehr androht, kommen inszeniert erst richtig zur Geltung. Das ist oral history vom Allerfeinsten, zumal, wenn zwei große Sozialhistoriker unserer Epoche sie zur Aufführung bringen: Rainald Goetz und Benjamin von Stuckrad-Barre. Zum Auftakt des Lesemarathons für sein neues Buch (es handelt diesmal nicht von einer Lesereihe) hatte Stuckrad-Barre nach Berlin-Tempelhof ins Columbiafritz geladen. Schwarze Hornbrillen, weite Hosen, jeder Deutsch-Leistungskurs hatte einen Vertreter geschickt. Der kleine Junge im weißen Lacoste-Hemd und die Mieze im engen Rock und mit Lederriemen am Schenkel zählten bereits zu den Freaks des Abends. Stuckrad-Barre ist ein Maniker. Einer, der über die Bühne hetzt und sich am Kopf fummelt. Er ist nervös, fahrig. Direkt ins Publikum schaut er nur beim Lesen, und den MTV-Moderator, der sich in die Widmungsschlange eingereiht hatte, springt er an vor Freude, umarmt ihn, stopft sich dessen Autogrammzettel in den Mund, spuckt ihn wieder aus. Stuckrad-Barre ist jemand, über dessen affektive Läufigkeit man sich freuen mag. Charmant-unsicher und auch schlagfertig, dazu sehnig wie ein Rastamann mit einer doppelten Muschelkette um den Hals. Dias zeigen eine Hauswand und ein abstürzendes Flugzeug. Sein neues Buch heißt schließlich "Blackbox". Acht Geschichten, in denen er menschliche Tragödien aufzeichnet. Stuckrad-Barre wird ruhig, wenn er liest. Mit warm vibrierender Stimme holt er mehr aus seinen Texten heraus, als drin ist: die Phänomenologie einer bürgerlichen Sensibilität. Keiner macht das so wie er: seine weiblichen Gäste scheitern schon am Lesen, und Eckhart Nickel hat einen schneidenden Ton und einen Kopf, der viel zu klein für seinen großen Körper ist. Die Texte werden so unpopulär wie ihre Verkäufer. Wiglaf Droste sieht aus wie ein dicker Schiffskoch, und man hört inzwischen das schleifende Zwischenatmen eines Übergewichtigen durch. Überhaupt war die Veranstaltung nicht das sozialliterarische Highlight, als das es vollmundig angekündigt war. Am Ende darf noch einmal Claudia auf die Bühne und liest mit ihrem Lieblingsautor im Wechsel. Und als Geste an alle Claudias im Publikum zieht Benjamin von Stuckrad-Barre seinen Pulli aus - so zeigt sich der Entertainer ganz kurz sogar nackt.

mos

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false