zum Hauptinhalt

Kultur: Blässhuhns Gedanken

Nachrichten aus einer versunkenen Stadt: Uwe Kolbes Charlottenburger „Lietzenlieder“.

Der Dichter Uwe Kolbe hat ein Faible für versunkene Reiche. Die sagenhafte Ostseeinsel Vineta ist seit jeher ein zentraler Topos in seinem Werk, eine Chiffre für Hoffnung und Verbrechen und für den Untergang einer einst ehrfürchtig umraunten politischen Utopie. In seinen neuen Gedichten entwirft er erneut die poetische Topografie einer untergegangenen Stadt: Im Lietzensee in Charlottenburg, so geht die Fama, ist dereinst eine ganze Stadt verschwunden, und mit ihr eine große Verheißung.

So eröffnet der 1957 in Ostberlin geborene Dichter, der dieses Jahr sowohl den Heinrich-Mann-Preis wie den Lyrikpreis Meran erhielt, in seinen „Lietzenliedern“ einen großen kulturhistorischen Assoziationsraum. Die Geschichte des mythisch beschworenen „Lietzow“ ist darin ebenso präsent wie die wenig charmante Vogelart, die das Charlottenburger Gewässer besiedelt – die Lietze nämlich, das profane Blässhuhn. Das Selbstporträt des Dichters als Vineta-Forscher und meckerndes Blässhuhn wird in großartigen Elegien im Ton von Hölderlin und Rilke vorgetragen.

Die famosen „Lietzenlieder“ bilden im neuen Band einen Sonetten-Zyklus, in dem Berliner und Brandenburger Gewässer und ihre Vogelarten als Ort poetischer Selbstvergewisserung aufgerufen werden. In einer Elegie des Zyklus „Lust, Umgang, Sprache“, einer zwischen Pathos und Selbstironie, hohem Ton und Schnoddrigkeit changierenden Selberlebensbeschreibung, taucht der „Eisenhans“ auf, ein „wilder Mann“ aus den Märchen der Gebrüder Grimm, der seine Verfolger und Rivalen auf den Grund eines Tümpels zieht.

Nicht nur in diesem Gedicht bewegen sich Kolbes lyrische Protagonisten auf unsicherem Terrain. Denn als ein schlammiges Gelände enthüllen sich ganze historische Formationen: „Idyllen oben, unten Sedimente“. Nicht weit entfernt vom „Eisenhans“, der sich im Märchen vom „wilden Mann“ zum stolzen König verwandelt, bewegt sich eine andere Lieblingsgestalt Kolbes, der „Hans im Glück“, der durch seine eigensinnige Ruhelosigkeit das eigene Glück gefährdet. Als „Hans im Glück, der da den Goldklumpen schleppt“, ist Uwe Kolbe dereinst von seinem Mentor Franz Fühmann gewürdigt worden. Nun transformiert Kolbe den Stoff des Märchens zu einem schönen poetischen Vexierbild, das die alten Utopien des realsozialistischen Ostens mit den Lebenswegen eines Glückssuchers konfrontiert, „der aus dem Westen käme“.

Das geografisch-politische Koordinatensystem, das Kolbe hier aufspannt, verweigert eine wohlfeile Dichotomie von Gut und Böse. Wer hier „aus dem Schlangenland“ und „aus den roten Wüsten“ kommend in den Park der Muße eintritt, für den ist die Leichtigkeit des „Hans im Glück“ noch nicht gesichert. Das Gedicht hält die Richtungsentscheidung in der Schwebe und verharrt im Konjunktiv. Die Suchbewegung des Dichters, der sich absetzte aus dem „Vaterlandkanal“ der frühen DDR-Jahre, erlaubt bis heute keine Einkehr in eine poetisch oder politisch fixierbare Identität.

„Wozu Dichter in dürftiger Zeit?“ Auf Hölderlins Frage in der Elegie „Brod und Wein“ liefert Uwe Kolbe in seinem fabelhaften Gedichtbuch äußerst skeptische Antworten. Eine dieser Hölderlin-Resonanzen ist im aufregenden „Rilke-Entwurf“ enthalten. Rainer Maria Rilkes Bild vom „schrecklichen Engel“ wird hier nämlich der Gestalt des Dichters zugeschrieben, der als Strippenzieher und „gnadenloser Erzschelm“ charakterisiert wird. Der Dichter erscheint als ambivalente Gestalt – den Einflüsterungen der Macht ist er ebenso erlegen wie den Sehnsuchtsmelodien der Lyra, der „Leier“.

So ist der Lyriker immer beides: „wahnsinniger schrecklicher Engel“ und gefährdeter „Narr mit dem Splitter im Fuß“: „Er hat es mit allen, mit allen getan, / auf ihnen sich aufgerichtet, gereckt, / Schultern der Großen, der Größten / von Marmor, von Elfenbein, Söhne / und Töchter der Menschen, der Götter / trugen ihn, seine Leier, sein Eselsfell, / sein Mal auf der Stirn, diesen vom Kreuz / herunter dozierenden Narren / mit dem Splitter im Fuß.“ Michael Braun

Uwe Kolbe:

Lietzenlieder.

Gedichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2012. 112 S., 16,99 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false