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Kultur: Blind in Berlin

Magisch-fantastische Kombinationen: Aléa Torik und ihr Debütroman „Das Geräusch des Werdens".

Ein blinder Fotograf ist eigentlich eine Unmöglichkeit. Wie soll er Bilder machen, wenn er sie nicht einmal sieht? Er wirkt noch hilfloser als ein Dörfler, der sich in einer fremden Großstadt zurechtfinden muss. Marijan, die Hauptfigur in „Das Geräusch des Werdens“, ist zu seinem Unglück gleich beides: blinder Fotograf und nach Berlin zugezogener Provinzler. Er stammt aus einem fernen, archaischen Bergdorf, in dem „von Glück nicht die Rede“ war und es nur zwei Wahlmöglichkeiten gab: „Gehen oder bleiben“. Marijan hat es zwar bis in die Metropole geschafft. Doch wie die meisten Auswanderer kommt auch er nicht recht von seiner alten Heimat los, dem rumänischen Kaff Mârginime, das wohl nicht zufällig heißt wie die Karpatenlandschaft südwestlich von Hermannstadt.

Der Weg raus aus der osteuropäischen Randzone in den scheinbar goldenen Westen ist auch im ersten Roman der 1983 in Siebenbürgen geborenen Aléa Torik, die unter www.aleatorik.eu eine eigene Website und einen Blog betreibt, steinig und schwer. Doch anders als andere Autoren des ehemaligen Ostblocks (etwa die im ungarischen Grenzgebiet aufgewachsene Terézia Mora) spart die Debütantin das Brutale des Epochenwandels aus – und kleidet ihn stattdessen in eine märchenhaft anmutende Allegorie, in der provinzielle Rückständigkeit keineswegs einen Makel darstellt.

Hinterwäldler Marijan wird von der gleichaltrigen Berlinerin Leonie zwar aus seiner Isolation geführt, aber der Passant, der ihm spontan einen Fotoapparat schenkt, macht dem Neuankömmling unmissverständlich klar: „Blind sind sie hier alle. Man muss nicht unbedingt etwas sehen, um zu fotografieren. (...) Man würde bestimmt besser sehen, wenn man gar nichts sähe. Eigentlich stört das Sehen nur.“ Toriks Roman strotzt nur so vor solchen sinnträchtigen Aussagen, Namen und Symbolen. Und schon das Pseudonym dieser ambitionierten Autorin, die an der Freien Universität gerade in Literaturwissenschaften promoviert und offenbar manchmal in der Grimm-Bibliothek anzutreffen ist, spielt auf die künstlerische Kompositionstechnik der Aleatorik an, bei der Elemente nach dem Prinzip des Zufalls kombiniert werden.

„Das Geräusch des Werdens“ ist von daher kein linear erzählter Roman, sondern eine vielstimmige Collage, in der neben Marijan noch eine Reihe anderer Erzähler zu Wort kommen. Die Kapitelabfolge wirkt dabei zumindest teilweise austauschbar. Die Eröffnung von Marijans erster Ausstellung bildet hier lediglich die Rahmenhandlung. Zur Begrüßung hält der blinde Fotograf eine Rede und erzählt, wie er in seinem Dorf mit 13 Jahren wegen einer Viruserkrankung sein Augenlicht verlor. Seitdem könne er nur am „Geräusch des Werdens“ erkennen, „dass da draußen tatsächlich eine Welt existiert“.

Was zunächst wie eine Liebesgeschichte zwischen Marijan und Leonie beginnt, wandelt sich zu einer Dorfchronik über drei Generationen, in der es mitunter ähnlich magisch-fantastisch zugeht wie in Marquez’ „Hundert Jahre Einsamkeit“. Denn wie im berühmten Macondo sollen auch in Mârginime Zwillingsbrüder miteinander verwechselt worden sein. Da beide zudem noch denselben Vornamen „Varian“ tragen, werden sie nur „die Varianten“ gerufen. Und natürlich verkörpern diese Zwillinge bei Torik prompt jenes Gegensatzpaar, das als wiederkehrendes Motiv den gesamten Roman durchzieht: hier der erfahrungshungrige Großstädter, dort der traditionsbewusste Provinzler.

„Das Geräusch des Werdens“ ist ein verrücktes, ausschweifendes Buch voller Anspielungen. Durchaus lesenswert, aber nichts für Liebhaber des plotfokussierten, leicht konsumierbaren Creative-Writing-Romans. Dafür gibt es zu viele Figuren, zu viele Perspektivwechsel, zu viele bedeutungsschwere Bilder und merkwürdigste Zufälle.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Autorin in ihrem ersten Roman tatsächlich sämtliche Existenz-„Varianten“ nach allen Regeln der Aleatorik durchspielen wollte. Denn Marijan ist eben längst nicht der Einzige, der sein Glück in der Fremde sucht. Auch den Bürgermeister und dessen Freund Valentin, Klassenkamerad Nicolae und vor allem Dorfschönheit Krisztina zieht es in die große Stadt. Krisztina jedoch, die zum Studieren weg will, bleibt rätselhaft auf der Strecke.

Was ist passiert? Hat sie der Teufel geholt? Oder wurde sie verschleppt? Nach und nach zeigt sich, dass das spurlose Verschwinden der 15-Jährigen die große Leerstelle ist, um die alle Lebensberichte kreisen. Letztlich redet sich jeder Erzähler aus Mârginime diesen traumatischen Verlust von der Seele. Und schließlich erklärt auch Marijan sein Erblinden als psychosomatische Reaktion auf das Ereignis. Von Krisztinas Schweigen geht tatsächlich etwas Beunruhigendes aus. Man fühlt sich erinnert an die vielen unter Ceausescu tatsächlich Verschwundenen.

Leider gewinnt die Figur inmitten der Überfülle anderer Schicksalsschilderungen kaum Kontur. So wie das experimentelle Textspiel insgesamt, erzählökonomisch betrachtet, überladen wirkt. Nichtsdestoweniger imponieren der Mut und die Unbekümmertheit, mit der die Autorin hier alle Genre- und Schreibkonventionen über den Haufen fabuliert. Mit ihrem zweiten Roman, so hat der Verlag angekündigt, will Aléa Torik ihr Pseudonym übrigens lüften.

Aléa Torik:

Das Geräusch des Werdens. Roman.

Osburg Verlag, Berlin 2012. 368 S., 19,95 €.

Gisa Funck

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