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Schmerzensmann und Schöntöner. Pierre Boulez probt für seinen Auftritt mit den Berliner Philharmonikern.

© Kai Bienert

Rückblick: Mut zur Moderne: Eine Bilanz des Berliner Musikfests

Das Musikfest ist zwar kein Klassikmassenspektakel oder Magnet für Kulturtouristen mehr, dennoch hat das Programm Impulse geliefert, die dem normalen Musikbetrieb fehlen.

Die wichtigste Aufführung des diesjährigen Berliner Musikfestes ereignet sich am vergangenen Samstagnachmittag. Auf dem Programm des ersten der beiden Konzerte, mit dem das Pariser Ensemble Intercontemporain seinen Beitrag zum Pierre-Boulez-Schwerpunkt leistet, stehen dessen „Structures pour deux pianos“ – ein nicht besonders bekanntes Werk aus den späten fünfziger Jahren, das man eher im Verdacht einer Sättigungsbeilage zu den großformatigen Orchesterstücken gehabt hatte. Und doch fühlt man schon nach wenigen Augenblicken dieses immens konzentrierten Dialogs zwischen den beiden Pianisten Hidéko Nagano und Sébastien Vichard, dass man hier den Schlüssel zum Schaffen Boulez’ gefunden hat. Dass gerade dieses Stück der Angelpunkt ist, von dem aus sich der junge Wilde Boulez, der die europäische Musikszene der Nachkriegszeit schockierte, genauso erschließt wie der spätere Schöpfer wohltönender, virtuos instrumentierter Orchesterwerke.

Beides ist in den „Structures“: Aus dem Bassregister seines Flügels holt Vichard immer wieder die blockhaft kantigen, schroffen Akkorde, die abweisend, zornig und verzweifelt zugleich klingen – jenes Wüten gegen die eigene Einsamkeit, das als emotionaler Grundton die beiden ersten Klaviersonaten durchzieht. Aber dann öffnet sich in den leuchtenden Diskantfarben, die Hidéko Nagano beisteuert, der Raum zum schönen Klang, zur heilen musikalischen Welt jenseits aller selbstquälerischen Seelennöte.

Fast alle wichtigen Werke Boulez’ hat das Musikfest in den letzten knapp drei Wochen präsentiert – vom Mallarmé-Panorama „Pli selon Pli“ über die Trauermusik „Rituel“ bis zu den schillernden „Notations“ im Abschlusskonzert mit Daniel Barenboim und seiner Staatskapelle. Eine Hommage zum 85. Geburtstag des Komponisten, die aber vor allem als Initiative gedacht war, die Musik Boulez’ im Klassikbetrieb zu verankern. Denn dort ist sie, der Berühmtheit des Dirigenten Boulez und der Initiative einzelner Künstler wie Barenboim zum Trotz, noch nicht wirklich angekommen.

Etliche der beim Musikfest aufgeführten Werke seien für das jüngere Publikum ebenso wie für die jüngeren Musiker Premieren, erklärt Musikfest-Chef Winrich Hopp, anders als etwa bei einer Bruckner-Sinfonie könne man auch nicht darauf bauen, dass das Grundverständnis für die musikalische Sprache Boulez’ bereits vorhanden sei. Mit der Entscheidung für Boulez, dem noch dazu mit Luciano Berio ein zweiter „moderner“ Komponist gegenübergestellt wurde, hat Hopp sein bislang wagemutigstes Programm vorgelegt und damit seine Vision des Musikfestes noch ein Stück weiter forciert. Seit seinem Antritt 2008 hat er Berlins wichtigstes Klassikfestival zum Zukunftslabor für die Entwicklung der Institution Orchester umfunktioniert, wo nicht volle Säle, sondern richtungweisende Programme Priorität haben. Mit der Resonanz auf sein diesjähriges Programm ist der Musikfest-Chef dennoch zufrieden. In den 24 Konzerten habe er 35 000 Besucher erreicht, rechnet er vor, das sei zwar nicht so viel wie bei der zugkräftigeren Kopplung Schostakowitsch / Xenakis, die im letzten Jahr 42 000 Besucher anzog, aber immerhin genauso viel wie 2008, als Bruckner, Messiaen und Stockhausen auf dem Programm standen. Dass die Philharmonie in diesem Jahr bei etlichen Konzerten erschreckend leer wirkte, stört ihn nicht. „Natürlich hätten wir einige Konzerte auch im Kammermusiksaal veranstalten können, wenn wir nur auf die Auslastung geschaut hätten. Aber mir war es wichtig, für Stücke wie ,Rituel‘, das eine Aufstellung der Spieler im Raum braucht, den großen Saal zu nutzen – und das wird auch weiterhin so bleiben.“

35.000 Besucher kamen - so viele wie für Bruckner

So sehr man auch bedauern mag, dass das Musikfest nicht mehr wie zu Hochzeiten der Ära Ulrich Eckhardt ein Klassikmassenspektakel und Magnet für Kulturtouristen ist, so sehr nötigt Hopps Entschiedenheit Respekt ab. Denn letztlich liefert er mit seinen Programmen gerade die Impulse, die dem normalen Musikbetrieb fehlen – auch weil die Aufgabe, eine Sichtung von Boulez’ Œuvre mit Blick auf seine Zukunftstauglichkeit vorzunehmen, zwangsläufig die Möglichkeiten eines einzelnen Orchesters übersteigt. Und was wäre denn die Alternative? Noch ein Mahler-Zyklus, nur weil der garantiert die Kassen füllt und gerade Mahler-Jahr ist?

Das Zeug zum Klassiker, das bleibt als Ergebnis des Musikfest-Kraftakts, hat Boulez auf jeden Fall – auch wenn die Ausdrucksdichte, die seine in den fünfziger Jahren entstandenen Werke besitzen, im Spätwerk einer unverbindlichen handwerklichen Meisterschaft gewichen zu sein scheint.

Ein freundlicher Gesprächston und eine helle, an Ravel erinnernde Farbigkeit bestimmen etwa „… explosante-fixe …“ aus den frühen Neunzigern, das Boulez für sein Konzert mit den Berliner Philharmonikern ausgesucht hat. Und auch das späte „Dérive 2“, dessen Berliner Erstaufführung Barenboim zufällt, füllt mit seinem spitzenklöppelnden Konversationston nicht ganz die 45 Minuten seiner Dauer. Auf unerwartete Weise zeigt sich da eine Parallele zum Klassizismus des späten Richard Strauss – wie Boulez ein großer (und eher nüchterner) Dirigent und gewiefter Orchestrator.

Doch neben diesen Erfahrungen stehen eben auch die Werke, in denen der Transformationsprozess vom komponierenden Schmerzensmann zum Meister der absoluten Musik gelingt. „Sur incises“ bewahrt die rhythmische Energie seiner Ursprungsversion, einer Klaviertoccata, und verleiht ihr durch die Besetzung mit jeweils drei Harfen, Klavieren und Schlagzeugen den Facettenreichtum eines geschliffenen Diamanten. „Rituel“, die Trauermusik auf den Tod des Komponistenkollegen Bruno Maderna, war in Berlin zum ersten Mal in ihrer räumlichen Konzeption zu erleben. Ein Stück, das in seiner Mischung aus strengem Trauerritual und individuellen Klagepassagen der im Raum verteilten Orchestergruppen eine Brücke zurück zu Mahler, Berg und Webern schlägt. Auffällig ohnehin die verschiedenen Anknüpfungspunkte, die Boulez’ Werk immer wieder bietet – als sei jedes Stück auch eine Verarbeitung seiner Erfahrungen als Dirigent.

Allerdings zeigt die Bilanz des Musikfests auch, dass es noch einige Zeit dauern dürfte, bis herkömmliche Orchester im Umgang mit Boulez die gleiche Selbstverständlichkeit besitzen, die sie sich in den vergangenen zwanzig Jahren bei Schönberg und Webern erworben haben. Dirigenten wie Jonathan Nott, der mit seinen Bamberger Symphonikern den ausufernden Zyklus „Pli selon Pli“, Boulez’ wohl schwierigstes Orchesterstück, unter Hochspannung setzen kann, dürften eher die Ausnahme sein. Und an die beseelte Selbstverständlichkeit, mit der die Musiker des einst von Boulez selbst gegründeten Ensemble Intercontemporain die Werke ihres Meisters spielen, kommt derzeit eh noch niemand heran. Aber das Musikfest hat gezeigt, dass diese Musik den Versuch wert ist.

Jörg Königsdorf

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