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Kultur: Blut, Schweiß und Schemen

Kindheit und Ehe eines Horror-Schriftstellers: Stephen King hat mit „Love“ seinen persönlichsten Roman geschrieben

Das erste, was man nach der Lektüre dieses Buches macht: Man geht zum Fenster, lässt frische Luft herein und bittet die neu gelernten Stephen-King-Wörter, den eigenen Kopf nun wieder zu verlassen. Es war zwar eine spannende (und manchmal zäh fließende) gemeinsame Zeit. Trotzdem. Jetzt braucht man Platz für Neues. Also bitte! Worauf „Blut-Bool“, „Lecker-Baum“, „Bösmülligkeit“, das „Purpurne“ und „das Ding mit der gescheckten Seite“ ein letztes Mal bedrohlich mit den Flügeln ihrer Bedeutung schlagen, bevor sie gehorsam und ohne zu murren in den herbstlichen Abendhimmel flattern. „Der Raum seufzte. Dann war es still.“

Man kann das Fenster nun wieder schließen und hat – kurz gefasst – schon die Geschichte von „Love“, dem neuen, ungefähr fünfzigsten Roman von Stephen King nacherzählt: Lisey , die Witwe des bekannten Schriftstellers Scott Landon, räumt das Büro ihres verstorbenen Mannes auf und lüftet. Viel mehr passiert eigentlich nicht. Allerdings wird dieser profane Vorgang dadurch erschwert, dass Scott nicht nur Horrorautor war, sondern durch Erlebnisse in seiner Kindheit auch tief traumatisiert. Und da Lisey – zur Zeit ihrer Ehe symbiotisch mit Scott verbunden – noch immer tief in Scotts Schicksal verstrickt ist, wachsen sich die paar Schritte zum Fenster zur titanenhaften Aufgabe aus. Unter jedem Gegenstand lauern bedrohliche Erinnerungen, Untote geistern herum, die erst besänftigt werden können, nachdem Lisey sich den Dämonen gestellt und vom inneren „Wörter-Pool“ getrunken hat. „Schnall’s um, wenn’s angebracht ist“, wie Scott, der Scherzkeks, immer sagte, sobald es ums Ganze ging.

Eine Familienaufstellung bräuchte für den Fall vielleicht eine halbe Stunde, Stephen King gönnt sich für die Geschichte 730 wahrscheinlich wieder sehr einträgliche Seiten. Mit über 400 Millionen verkauften Büchern ist er noch immer einer der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart, und die Auslieferung seines neuen Werkes erfolgte am gestrigen Dienstag marketingtechnisch effektiv weltweit am gleichen Tag (bei Nichteinhaltung der Sperrfrist drohte der Heyne Verlag mindestens mit der Todesstrafe). Bei „Love“ soll es sich nach Verlagsangaben um Kings persönlichstes Buch handeln. Aber das muss man als Köder und Abgrenzung vielleicht behaupten, wenn der letzte Roman „Puls“, – ein schlichter Zombie-Roman – erst vor einem halben Jahr erschienen ist. Die Koketterie mit dem Autobiografischen (der verstorbene Schriftsteller lebte in Maine, hatte Alkoholprobleme und ist mit einer Frau verheiratet, die, wie Kings Frau Tabitha, vier Schwestern hat) ist jedenfalls nicht neu und gehört zur Gruselfaszination dieses Autors.

Ursprünglich hatte King die Idee, einen Roman über einen Verrückten zu schreiben, der Jagd auf hinterlassene Manuskripte eines verstorbenen Autors macht, wie er der „Times“ kürzlich erzählte. Doch beim Schreiben schob sich die Backstory, die Lebens- und Ehegeschichte des Schriftstellers, immer weiter in den Vordergrund. Zum Glück, muss man sagen. Der Verrückte – dümmlicherweise „Zack McCool“ genannt – taucht zwar auf, um im natürlich einsam gelegenen Haus die Schriftsteller-Witwe zu bedrohen und horrorhaft mit einem Dosenöffner rumzusäbeln. Aber der versuchte Manuskriptklau dieser comic-haften Gestalt bleibt, wie überhaupt der gesamte äußerliche Spannungsapparat, reichlich unmotiviert und lachhaft und hat offensichtlich nur die Funktion, das Buch verfilmbar zu machen.

Interessanter ist das innere Drama Liseys und die Technik, mit der King daran arbeitet, die Grenzen zwischen der diesseitigen und der jenseitigen Welt aufzulösen. „Love“ ist kein fantastischer Roman, in dem per Genre-Definition alles passieren kann, sondern ein Psychothriller, in dem das Fantastische tröpfchenweise in die Normalität sickert, die logischerweise nie normal war. Das wusste Lisey natürlich. Sie hatte es bloß verdrängt, um ein halbwegs geregeltes Leben mit Scott führen zu können.

King arbeitet langsam. Mit bulldozerhafter Unerbittlichkeit schieben seine konventionellen Sätze einen Verweis an den nächsten, schichten Anspielung auf Anspielung, beschwören die Angst vor dem Verdrängten („Psst, nicht sprechen“) und die Bedeutsamkeit des hinter dem „purpurnen Vorhang“ Verborgenen – bis man nach zweihundert Seiten nicht nur die Familie Liseys samt der semiverrückten Amanda und die infantil anmutende Privatsprache des Schriftstellerpaares kennt, sondern auch die Umrisse von Scotts Kindheitsdrama ahnen kann. Es hat etwas mit dem Vater und dem Bruder Paul zu tun, der als Kind die geliebten Schnitzeljagden veranstaltet hat, „Bools“ genannt.

Als Schnitzeljagd („Blut-Bool“) ist auch der Roman aufgebaut. An Dingen („Spaten“) und Orten („unter dem Lecker-Baum“) entlang, hangelt sich Lisey in wild vor und zurück springenden inneren Monologen durch den Nebel des Vergessenen, nähert sich dem Trauma, um, abgeschreckt von einem ominösen „Ding mit der gescheckten Seite“, wieder zurückzuzucken. Die Erinnerung ist ein schweißtreibendes Geschäft. Am besten gelungen sind noch die mittleren Passagen, in denen alles in der Schwebe bleibt. Details knistern bedeutungsvoll, aber nichts Genaues weiß man nicht. Rührend die Szenen, in denen sich die beiden Jungen im Windschatten der väterlichen Gewalt eine märchenhafte Fantasiewelt einrichten oder Scott und Lisey als Zwanzigjährige mit großer Wucht aufeinander treffen.

Doch sobald es Richtung Ende geht, ist der größte Dämon dieses Wälzers die Langeweile. Denn zum einen ist das, was sich hinter dem „Purpurnen“ verbirgt, beileibe nicht so überraschend, wie die hochgeschraubte Erwartung es sich wünschen würde. Zum zweiten vollzieht sich die Auflösung nach Schema F in einem vorhersehbaren, das retardierende Moment weit überstrapazierenden Dreischritt. Es stimmt, die Fratze auf dem Cover hat, wie sich herausstellt, tatsächlich etwas mit Liebe zu tun. Trotzdem endet die Coelho-hafte Heldenreise als langatmiger Porno der Gewalt.

Stephen King: Love. Roman. Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner. Heyne Verlag, München 2006. 736 Seiten, 22,95 €.

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