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Kultur: Blut & Loden

Ganslhaut-Spektakel: Hermann Nitschs „Orgien Mysterien Theater“ an der Wiener Burg

„Kein Gekicher! Das ist eine ernste Angelegenheit“, rügt der Aktionsleiter zwei Dutzend Akteure, die in eisiger Winterkälte nur mit weißen T-Shirts und Hosen bekleidet um ein riesiges Holzgerüst stehen. „Ans Gerät! And move!“, lautet der mehrmalige Befehl. Und wie eine wackelige Riesenbarke mit Steuermann setzt sich der Tross in Bewegung. Anstelle von Segeln überragt das Gefährt ein an den Hinterbeinen aufgehängter, gehäuteter Stier. Auch das Publikum lacht und mischt sich vor dem Wiener Burgtheater mit den Flaneuren des gegenüberliegenden Wiener Christkindlmarkts. So vereinigen sich für kurze Zeit vorweihnachtliche Volksbelustigung und Hermann Nitschs 122. Aktion seines „Orgien Mysterien Theaters“ zum archaischen Jahrmarktspektakel.

Ein aus den Fugen geratenes Intermezzo an einem ansonsten rigide durchgeplanten Abend: Zum Jubiläumsjahr lud Burgtheater-Intendant Klaus Bachler den Wiener Aktionisten Hermann Nitsch zur Performance seines Kultspektakels in sein Haus. Bereits 1957 entwickelte Nitsch die erste Konzeption seines dramatischen Festes, in dem sich alle Künste zu einem „vor- und nachsprachlichen Theater“ vereinen: Kein Schauspiel, sondern eine „Schule des Empfindens bis zur Katastrophe des Dramas“ auf der Grundlage des Schreis, das sinnliche Intensität erfahrbar machen soll. Katharsis, die innere Reinigung von verdrängten Aggressionen, ist das Ziel von Nitschs „psychoanalytischer Dramaturgie“ als Beitrag zum Weltfrieden. Seine Kunst versteht er als „metaphysische Tätigkeit“, basierend auf den Dionysien der griechischen Tragödie, den mittelalterlich-christlichen Mysterienspielen und der Theorie des kollektiven Unbewussten nach C.G. Jung. „Das Publikum soll eine Ganslhaut bekommen“, träumt Nitsch von seinem Betroffenheits-Programm, nun erstmals im Theater erprobt.

Nach jahrzehntelangen Protesten durch Rechtsextremisten, Kirche und Tierschützer kam Nitsch an der „Burg“ nun gleichsam zu Staatsehren. Mit Trillerpfeife dirigiert er seine hundertköpfige Dienerschaft zum immergleichen Tableau eines suggerierten Opfermords. Fast acht lange Stunden kann man einander ähnelnde, teils simultane Szenen beobachten: Nackte Jünglinge und Mädchen mit verbundenen Augen liegen mit ausgestreckten Armen gefesselt auf Holzkreuzen. Auf ihnen ein totes Schwein, in das andere Akteure zuvor ausgeweidete Gedärme und Innereien stopfen, darin herumwühlen und das gekreuzigte „Modell“ mit Blut übergießen.

Begleitet durch einen konstanten Orgelpunkt sowie durch atmosphärische Cluster der „Jungen Philharmonie Wien“ und des „Universitätschors“, aber auch durch Polka- und Schuhplattlerklänge verlagert sich das Geschehen samt Publikum schließlich auf die weiß abgedeckte Bühne. Als Zuschauer beobachtet man ein Publikum, das eine streng organisierte Orgie betrachtet, dokumentiert von Kameras: inszenierte Spontaneität für die vermarktbare Ewigkeit.

Den Höhepunkt bilden Häutung und Ausweidung eines Stiers. Über den Gestank von Gedärmen und frischem Blut legen sich Weihrauchschwaden, in deren Dunst sich ein Jüngling ekstatisch in der Bauchhöhle des Tieres wälzt. Und immer wieder dasselbe Szenario: Meter lange Speere werden auf die Mittelfigur eines Triptychons gerichtet: Dort sind drei blutbesudelte Akteure auf Holzkreuze gebunden. Christus-Legende und ParzivalMythos verschmelzen zu einem Erlösungsbild. Am Ende wird der Stier auf dem Boden mit Weintrauben und Tomaten gefüllt, darauf ein Gekreuzigter, darüber die ganze Horde von Akteuren, die schreiend und schnaufend trampeln und wühlen. Viele Eimer Blut ergießen sich über die Horde, bis sie sich am Ende erschöpft umarmt und applaudiert.

Geglückte Triebabfuhr im Selbstfindungsseminar? Ungewollt enthüllt das Burgtheater an diesem Abend den handwerklichen Dilettantismus und die illusionseifernde Ideologie eines „Orgien Mysterien Spiels“, das als Psychodrama für Eingeweihte wenig mit Kunst und Theater zu tun hat. Nicht Aufklärung, sondern die Vertiefung der Metaphorik christlicher Symbole in eine kosmische Dimension betreibt Nitsch: hierarchisch organisierte, regressive Selbsterfahrung statt Emanzipation und Selbstbestimmung. Irgendwann während der Vorstellung kniet sich eine Zuschauerin in weißem Rock in eine Blutlache auf der Bühne: Souvenir für Metaphysiker.

Christina Kaindl-Hönig

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