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Kultur: Böse Prediger

Wilco verausgaben sich im Berliner Kesselhaus

Wo eigentlich anfangen bei dieser grandiosen Achterbahnfahrt von einem Rock-Konzert?

Vielleicht mit Glenn Kotche, der Naturgewalt am Schlagzeug. Wie er die Stücke von Wilco im ausverkauften Kesselhaus zusammenhält, die sechsköpfige Band traumwandlerisch durch zarte Country-Stillleben oder wüstes Lärm-Gesplatter navigiert und dabei selbst wie die Essenz eines Drummers wirkt: Er verrichtet seinen Job dermaßen voller Hingabe, als wären dies die glücklichsten Momente seines Lebens.

Oder Nels Cline, der Neuzugang an der Lead-Gitarre, mit seiner Bürstenfrisur noch nicht ganz dem legeren Southernrock-Habitus seiner Kollegen angepasst. Er spielt ein unglaubliches Solo nach dem anderen, zerhackt die Songenden lustvoll mit orgiastischen Noise-Clustern und fädelt bei „Impossible Germany“ die wohl berückendste Kombination von Tönen aneinander, die man seit langem gehört hat.

Im Zentrum des Orkans aber steht Jeff Tweedy, der sich von einem guten zu einem wirklich großartigen Sänger entwickelt hat. Der früher eher etwas mürrische Bandleader entpuppt sich an diesem Abend als wahrhaft eloquenter Entertainer. Letztlich aber bleibt es doch die Musik, die Wilcos Magie ausmacht. Man muss große Namen der Popgeschichte anrufen, um diesem Zauber gerecht zu werden: Die klassische Formstrenge von The Band vielleicht, die gruppendynamische Energie der Grateful Dead, die quecksilbrige Leichtigkeit der Allman Brothers – alles verdichtet sich zu einem überwältigenden Mahlstrom aus Schönheit, Eleganz und Leidenschaft.

Wilco verausgaben sich, über zwei Stunden lang. Am Schluss zelebriert Jeff Tweedy „Kingpin“ wie eine Gospelmesse, segnet das Publikum mit dem „Gift of Rock Music“, während Nels Cline sich zum Rückkopplungsgeheul am Boden wälzt. Von diesen unheiligen Predigern lässt man sich gern bekehren.

Jörg W, er

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