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Kultur: Bonner Stücke-Biennale: Gesellschaften in der Nussschale

Dalí stirbt. Ausgestreckt auf einem gewaltigen Flügel, der in der Gegend der Tasten zum Felsen wird, lässt der Meister der Megalomanie zum letzten Mal einen Kosmos erstehen, der in die immer gleichen vier Buchstaben sequenziert ist: D, A, L, I.

Dalí stirbt. Ausgestreckt auf einem gewaltigen Flügel, der in der Gegend der Tasten zum Felsen wird, lässt der Meister der Megalomanie zum letzten Mal einen Kosmos erstehen, der in die immer gleichen vier Buchstaben sequenziert ist: D, A, L, I. Der "Gran masturbador" resümiert sein Leben als Triumph infantilen Begehrens. Das fing an, als es den Knaben nach den Brüsten der Magd gelüstete und er, auf dass diese sich bücke, eine wohl geschlungene gelbe Schärpe auf den Boden pinkelte.

Die Theatertruppe Els Joglars aus Barcelona spendiert mit "Daaalí" dem 1989 verstorbenen Landsmann einen bilderseligen Nach-Ruf, die überaus zierliche Montse Puig spielt den kleinen Salvador so staunend, frech und weich, als sei sie selbst ein Kind. Zum vierten Mal sind die Joglars auf der Bonner Biennale dabei, die hierzulande immer noch fast unbekannte Gruppe um Albert Boadella. Der Autor-Regisseur, in der Franco-Zeit inhaftiert, klagt den notorischen Franquisten und als "¡vida Dollars" geschmähten Ex-Surrealisten nicht etwa an, sondern feiert ihn als den unermüdlichen Provokateur aller Welt und Werte, gibt ihm Worte, die den deutschen Zuschauer an die Großmäuligkeit eines Schlingensief erinnern. Der Kandinsky-Clown, der Mondrian- und Pollock-Clown müssen antreten, Dalí lehrt sie Malen und zerstört ihre Werke. Picasso sitzt als Handpuppe auf dem Arm seiner Deutungsintellektuellen. Der geliebte Freund García Lorca ist ein Vexierbild der Ehefrau Gala, und der verehrte Velázquez - ist Dalí selbst! Es ist von zirzensischer Poesie, wie der Hofmaler des 17. Jahrhunderts "Las Meninas" pinselt, sich zugleich duelliert und eine Schachpartie gewinnt. Dass die Bilder der Meister dabei via Computeranimation auf einer Projektion entstehen, ist eher schwächliche Zutat; faszinierend das Spiel, das auf kaum beschreibliche Weise ein Fest der Übergänge ist, des Fließens und Verwandelns der Szenen und Figuren.

Die Bonner Biennale, die mit Cesare Lievis Elegie "Der Tag der Worte der Anderen" eröffnet wurde, ist zu Ende. 25 Stücke aus 19 Ländern hat sie an den Rhein gebracht. Sie ist ein Autorenfestival, durch Bonn schlenderten die Dramatiker Europas. Sie ist auch ein Arbeitsfestival, wer wollte, konnte sich über den Stand der schwedischen Dramatik informieren und Foren über "Krieg auf dem Theater" oder den "gehypeten Autor" beiwohnen. Dies unterscheidet das von dem Dramatiker Tankred Dorst und dem Bonner Intendanten Manfred Beilharz geleitete Festival wohltuend von anderen Mega-Events.

Wer weiß schon, was das Theater in Estland, Albanien, Mazedonien und anderen Randregionen umtreibt? Die Biennale zeigt den Bühnenalltag dieser Länder, doch die Auswahl, die auf den Vorschlägen ortsansässiger "Paten" beruht, ist subjektiv. Dorst wehrt alle Fragen nach einem Trend beharrlich von sich. Gleichwohl, neben das ewige Thema Krieg und Gewalt schob sich heuer die Frage existenzieller Einsamkeit. In Filip Sovagovi¬cs "Cigla - ein langweiliges Stück" aus Split hausen vier Brüder in einer Rumpelkammer, die Eltern - der Integralstaat Jugoslawien - sind tot, draußen tobt der erste Balkankrieg. Doch die Vier haben aufgegeben; matt ihre Beziehungen untereinander und zu ihren Frauen, matt ihr Lebenswille. Einsamkeit als Ausgeschlossensein von der Historie auch in Oleg Bogajews "Russische Nationalpost". Wieder sind Gesellschaft und Staat, ist alles Draußen irgendwie weg. Der alte Iwan Sidorowitsch, grandios gespielt vom Moskauer Schauspieler-Idol Oleg Tabakow, lebt nur in der Vergangenheit, schreibt imaginäre Briefe an alte Freunde, sich selbst, den Präsidenten, zuletzt an Elizabeth II. und die Wanzen im Schrank.

Kein Triumph der Fantasie über die Widrigkeiten des Lebens, sondern das leere Pumpen eines Herzens, das einstmals schlug - in der Sowjetzeit. Auf die Frage, ob er bei seiner Recherche in Russland Theater über den Tschetschenienkrieg zu Gesicht bekam, schüttelt Dorst den Kopf: "Völlig undenkbar!" Auch die Künstler meinten, das gehe sie nichts an. Bezeichnender Weise kam das Stück, das russische Verhältnisse auch sehr konkret auf die Schippe nimmt, aus Polen, Janusz Glowackis "Die vierte Schwester", das im Amerika-gierigen Moskauer Mafia-Milieu spielt - was zu Verstimmung bei den russischen Theaterleuten führte, so Dorst. Ansonsten aus Polen - geschätzt, gefürchtet - wieder der schwere, bedrückende Stoff, diesmal "Die Schlafwandler" nach Hermann Brochs gleichnamigem Roman: Neun-Stunden-Theater fast bis zum Nullpunkt reduzierten Spiels und bis zum Siedepunkt angestauter Emotion ohne Entladung, eine Elegie in Schwarz und Grau, in der selbst die heftigste Handlung gedämpft vor sich geht.

Regisseur Krystian Lupa und das Krakauer Stary Teatr scheinen das heutige Polen mit dem Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg zu assoziieren. Dokumentarische Geschichts- und hämische Gegenwartsbewältigung hingegen aus Estland und Bulgarien: Aus Tallinn kam "Waggoners" von Merle Karusoo, das die Deportation von 2,5 Prozent der Bevölkerung nach Sibirien im Jahre 1949 und die Kollaboration der Esten dabei mutig, aber theatral unscheinbar bearbeitet. Und aus Pleven landete "Flieg, Oberst, flieg!" von Christo Bojtschew, das einen Haufen vergessener Irrer - Taube, Stumme, Kleptomanen - in einem Bergkloster zeigt: die bulgarische Gesellschaft in der psychiatrischen Nussschale. Eines Tages wird eine für Bosnien bestimmte UNO-Lieferung irrtümlich auf sie abgeworfen, darin: Blauhelm-Uniformen. Kaum sind sie angezogen, finden die Gemütskranken zur alten Form zurück: Tief sitzt der Militarismus in ihnen allen. Gestärkt erklärt man sich zur EU-Enklave und plant den Marsch nach Straßburg.

Eindeutiger Schwerpunkt dieser "Neuen Stücke aus Europa" war also der Osten. Der steht wie Kafkas Mann vom Lande entmutigt vor dem Türhüter. "Hotel Europa" jedoch, das diese Verlorenheit für den Zuschauer besonders anschaulich zu machen versprach, kam über die Absicht nicht hinaus. Regisseure aus acht Ostländern verteilten sieben zum Teil eindringliche Szenen des Mazedoniers Goran Stefanovski - Europa als Alp und Traum, als Absteige und Wartesaal - in die Schutträume des aufgelassenes Godesberger Hertie-Kaufhauses und arrangierten ein Hinterherzockeltheater darum herum. Ein Sündenfall der Biennale insofern, als dies ihre erste Koproduktion mit den internationalen Festivals von Wien, Avignon und anderswo darstellt, auf deren Karussell es nun hier aufspringt (siehe Tagesspiegel vom 2. 6.).

Und der Westen Europas? Wieviel süßer die Qualen des Ichs, die sein Theater behandelt - und wieviel selbstsicherer und entwickelter seine Mittel. Vom Osloer Norske Teatret etwa kam "Sommertag", eine Fjord-Traurigkeit, ein still daliegendes Stück über einen tiefen Verlust, mit der wunderbar in sich kreisenden Sprache Jan Fosses. Und aus Amsterdam war das leichtfüßig intensive, erzählerische und doch dramatisch dichte "Black Box" zu genießen, das in Paul Binnerts Regie einem Roman von Amos Oz folgt. So war auch diese fünfte Biennale ein Erfolg. Als allerdings am vorletzten Tag der Blitz einen Baum ins Festivalzelt schleuderte und eine Autorenlesung brutal beendete, verstand mancher dies als Menetekel der Bedrohung, die durch die Subventionskürzungen für die alte Hauptstadt auch über der Biennale schwebt.

Ulrich Deuter

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