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Kultur: Bossa Nova aus der Schleifmaschine

Er kommt: Tom Zé, Wegbereiter des Latin-Pop – eine Begegnung

Sehen so Revolutionäre aus? Ein schmales Männlein, vielleicht 1,65 Meter groß, öffnet die Tür zur Garderobe. Im hageren Gesicht trägt es einen zersausten Bart, an den Füßen klobige Adidas-Sandaletten. Tom Zé, der Frank Zappa Brasiliens, wie die „New York Times“ geschrieben hat, wirkt müde. Vielleicht liegt es an der langen Reise von São Paolo nach Recklinghausen. Vielleicht an seinem Alter. Er ist 67. Noch bevor man sich vorgestellt hat, breitet Tom Zé die Arme aus und drückt einen an sich. Über seine Schulter hinweg sieht man, dass sie ihm Obst und Wasser in die Garderobe gebracht haben. Er sagt, er habe Bauchschmerzen. Immer wieder wird sich Zé über den Unterleib streichen, und er wird die Hand auf den Arm seines Gegenübers legen. Zum Festhalten. Aber es ist auch eine warme, großzügige Geste.

Wir setzen uns, haben eine Stunde Zeit. Dann soll der Soundcheck im Recklinghausener Festspielhaus beginnen, wo Zé eins von zwei Deutschland-Konzerten geben wird. In mehreren Musikzeitschriften hat es geheißen, Zé sei ein schwieriger Gesprächspartner, der schon mal zehn Minuten schweigen könne. „Das Wort ist nicht meine Praxis“, sagt der Brasilianer auch prompt. Dennoch ist er in Plauderstimmung. Er rückt seinen Stuhl vor das Fenster, durch das die Sonne scheint, eine „schöne deutsche Sonne“, sagt er. Seine Frau, die auch seine Managerin ist, hat sich dazugesetzt. Sie hat allen Grund, auf ihren Mann Acht zu geben. Denn Tom Zé war schon einmal so gut wie tot. Künstlerisch und klinisch.

Zés zweites Leben begann 1990. Davor, in den Achtzigerjahren lebte der einstige Star in Düsternis. Eine einzige Platte nahm er in dieser Zeit auf, schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch. „Als ich kurz davor stand, einen Job in einer Tankstelle anzunehmen, klingelte das Telefon“, erzählt Zé. Am anderen Ende meldete sich David Byrne, der Kopf der Talking Heads. „Er habe gerade eine Platte von mir in die Hände bekommen. Er sagte, er finde sie großartig.“ Byrne veröffentlicht eine Sammlung von Zés alten Songs und nennt sie „The Best of Tom Zé“. Im Jahr 2000 nimmt der „Rolling Stone“ die Platte in die Liste der besten CDs der gesamten Dekade auf.

Man merkt Zé an, dass die späte Anerkennung eine Genugtuung für ihn ist. „Mitte der Achtzigerjahre wäre ich fast gestorben“, sagt er. „Ich hatte fürchterlichen Ausschlag. Aber keiner wusste, was es war. Wahrscheinlich die Missachtung.“ Wie alle Revolutionäre litt Zé darunter, dass er seiner Zeit voraus war. Belustigt erzählt er, wie er 1984 im Goethe- Institut in São Paolo Videos von deutschen Bands sah, die mit Bauwerkzeugen hantierten. Ein Musikjournalist habe damals völlig korrekt geschrieben: „Schön. Aber Tom Zé hatte die Idee schon vor zehn Jahren.“

Zés Leben beginnt 1936 in einem Dorf im Nordosten Brasiliens, der ärmsten Region des Landes. Er interessiert sich für die Gitarre und wird 1960 von Freunden in eine Fernsehshow mit dem Namen „Treppe zum Erfolg“ geschickt. Dort spielt er den Song „Rampe zum Scheitern“ und wird ein Lokalheld.

Acht Jahre später prägt er den kurzen Sommer der legendären Tropicália-Bewegung um die heute weltbekannten Caetano Veloso und Gilberto Gil mit. Die Tropicalistas revolutionieren damals die brasilianische Musik, indem sie – lange bevor der Begriff Crossover überhaupt existiert – die populäre Musik des Landes mit Großstadtlärm, klassischer Musik und den Klängen der Rolling Stones verbinden. Stark vom Existentialismus und der Nouvelle Vague geprägt nehmen sie Bezug auf Jean-Luc Godard und Jean-Paul Sartre. „Wir wollten damals eine neue Sprache entwickeln“, sagt Zé, „aber man musste diese Sprache auch kapieren wollen.“

In den Siebzigerjahren, der Zeit der Militärdiktatur, machte sich niemand in Brasilien mehr die Mühe, Zé verstehen zu wollen. Zé baute damals Instrumente aus Schreib- und Schleifmaschinen, montierte die Störgeräusche auf traditionelle brasilianische Rhythmen. Seine Texte vagabundierten zwischen Dadaismus und satirisch verhüllter Kritik an Zensur und Machtapparat.

Vor zwei Jahren ist Zés vorerst letzte Platte erschienen. Sie heißt „Jogos de Amar“ (Liebesspiele), ist eine ungewohnte Mischung aus brasilianischer Folklore, Rock und irritierenden Schreien und Klingeltönen. Diese Experimentierfreude macht es unmöglich, Zé für die brasilianische Variante des Buena Vista Social Club zu halten. Zu wenig entspricht seine Musik dem idyllischen Samba-Klischee. Andererseits möchte Zé auch nicht als verschrobener Avantgardist gelten. „Auf der Bühne verwandele ich mich wieder in einen wilden 30-Jährigen. Ich will, dass die Leute mich verstehen.“

Heute im Großen Saal der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (21 Uhr 30)

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