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Kultur: Brandungswellen der Seele

Mit „A Ghost is born“ veröffentlichen Wilco eine grandiose Platte

Er ist ein Untergeher. Einer, der so sehr von der Furcht besessen ist, dass eines Tages alles auf- und auseinanderfliegen könnte, das ganze geniale Getue, dass er dem beinahe entgegenfiebert. Seine Nerven liegen blank wie abgerissene Stromkabel. Und Jeff Tweedy sagt: „Ich rechne bei jeder Platte mit dem Absturz.“

Es passierte dann wieder doch nicht. Jedenfalls nicht sofort. Doch kaum, dass Wilco, die Band von Jeff Tweedy, ihr fünftes, skeptisch erwartetes Album fertig gestellt hat, da zieht sich ihr Mastermind plötzlich in eine Drogenklinik zurück. Über Jahre hatte der Mann, der nicht mal Alkohol anrührt, unter chronischen Kopfschmerzen, Depressionen und Panikattacken gelitten und diese mit Schmerzmitteln zu dämpfen versucht. Darüber war er zum Tabletten-Junkie geworden, der kein Ende finden kann.

No one’s ever gonna take my life from me, singt Tweedy nun, I lay it down. Tatsächlich schält sich die Musik auf „A Ghost is born“ (Nonesuch/Warner), dem neuen Werk des 36-jährigen amerikanischen Ego-Artisten, aus einer Finsternis, die sämtliche Töne immer wieder zurückzuziehen, zu verschlingen droht. „Handshake Drugs“, ein Song, der unverholen auf Tweedys Gesundheitsprobleme anspielt, entwickelt die Idee einer Geborgenheit, die so wohltuend sein kann wie ein Grab: I was burried in sound/ and the taxi cabs were driving me around/ to the handshake drugs I bought downtown. Worauf das Stück in ein flirrendes Feedback-Gesäusel mündet, ein Brandungsrauschen der Seele.

Ob „A Ghost is born“ deshalb besser oder schlechter ist als das avantgardistische, von der Plattenfirma abgelehnte und damit erst recht zum Kunst-Ereignis veredelte „Yankee Hotel Foxtrott“ (2002), lässt sich schwer sagen. Wilco- Songs brauchen eine Weile, bis die ambitionierte Soundfassade ihren Reiz verliert und sie vom Leben Besitz ergreifen. Das demonstriert grandios, unwiderstehlich der Opener. Ein Klavier, ein paar unfertige, grob-verzerrte Töne auf der E-Gitarre, dazu diese leise, scheue Stimme eines Mannes, der seiner Freundin anbietet, sich zu verdrücken, wenn es das denn ist, was sie will. Gehen oder bleiben, sie wissen es beide wohl nicht. Und so muss die Musik eine Antwort finden und findet sie auch, indem das Quartett, zunächst auf der Stelle tretend, wie in einem Laufrad, das nicht vorwärts kommt, sich immer lauter, wütender, ja, auch zielstrebiger des Zweifels entledigt. Tweedy wuchtet aus seinem Instrument ein Verzweiflungs-Solo, kreischt und jault und heult sich symbolisch die Seele aus dem Leib, bis die Stromwut in einem wimmernden Seufzer erstirbt.Ein existenzielles Rock’n’Roll-Drama.

Und danach? Tja, danach wird es undurchsichtig. Nur „At Least That’s What You Said“ weiß auf die Frage, Kunst oder Rock’n’Roll, eine Antwort. Die anderen Songs sind Geistergebilde. Kaum hörbar wispern sie unverständliche Botschaften. Indem sie mal wie ein Beatles-Song aus der späten „Magical Mystery“-Phase mal wie eine John-Lennon-Kopie oder Neil-Young-Zitat klingen, beweisen sie immerhin, dass es sie wirklich gibt. Selten hat man beim Hören einer Pop-Platte so sehr das Gefühl, dass kein Song enden will, sondern – wenn alles gesagt ist – sich erneut aufschwingt, um die Sache noch einmal von hinten anzugehen.

Er sei von der Frage besessen gewesen, erklärt Tweedy, „wie man sich noch selbst definieren kann“. I am a wheel, lautet eine seiner Antworten. I am an ocean eine andere. Und natürlich hält er sich auch für den „Geist“, der sich verabschiedet, ohne davonzugehen. Aber für jemanden, der in den USA als Säulenheiliger der alternativen Country-Szene verehrt wird, seit er mit der Band Uncle Tupelo 1987 die rohe Energie des Punk in den Mittleren Westen trug und damit zum einflussreichsten role model einer modernisierten Folklore aufstieg, sind das vermutlich harmlose Vokabeln. Was rufen sie ihm nicht noch alles hinterher. Während er auf sein Unvermögen insistiert. Und hätte nicht wieder sein Freund und Produzent Jim O’Rourke (Gastr Del Sol, Sonic Youth) im Studio die Fäden und aufgetrennten Nähte neu verknüpft, wer weiß, ob die Songs nicht wirklich auseinandergeflogen wären.

Am Ende, wenn selbst die Gitarren nach mehrminütigem Dauerbrummen verstummt sind, und man nach über einer Stunde mysteriöser Traumdeutungen hinzunehmen bereit ist, dass irgendwann ja doch Schluss sein wird, am Ende also erzählen Wilco von einer verloren gegangenen Band. Sie werde nie im Radio gespielt, singt Tweedy, noch sonstwo gehört, und es ist nicht mal sicher, ob sie überhaupt existiert. „The Late Greats“ ist ein Abgesang – der Epilog von einem, der nicht aufhört, nach dem Song aller Songs zu suchen.

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