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Kultur: Brauchen wir wieder Utopien, Herr Sennett?

Richard Sennet: 1943 in Chicago geboren, ist einer der bekanntesten Gesellschaftstheoretiker der Gegenwart.Er lehrt Geschichte und Soziologie an der New York University.

Richard Sennet: 1943 in Chicago geboren, ist einer der bekanntesten Gesellschaftstheoretiker der Gegenwart.Er lehrt Geschichte und Soziologie an der New York University.Bekannt wurde er vor allem mit kulturgeschichtlichen Studien über den Wandel der Öffentlichkeit und das Leben in der modernen Großstadt.In seinem neuesten Buch "Der flexible Mensch" (Berlin Verlag 1998.224 Seiten.36 DM.) beschreibt er die psychischen Auswirkungen des neuen, ganz auf Flexibilität und kurzfristige Ziele ausgerichteten Kapitalismus.Ein darauf beruhendes Gesellschaftssystem, das den Menschen keinen tieferen Grund gibt, sich umeinander zu kümmern, sieht er zum Untergang verurteilt.Über die Tücken der Individualisierung, neue Formen der Solidarität, die Rolle des Intellektuellen und das neue Berlin sprachen Christian Böhme und Thomas Rathnow mit Richard Sennett. TAGESSPIEGEL: Verstehen Sie sich als ein klassischer Intellektueller, der sich auch politisch engagiert? SENNETT: Natürlich denke ich politisch und würde gerne sehen, daß sich die Dinge verändern.Aber in die Parteipolitik mische ich mich nicht ein.Für die amerikanischen Verhältnisse stehe ich zu weit links.Da ich kein Mann der Mitte bin, würde ich in keine der beiden großen Parteien - Demokraten oder Republikaner - passen.Eine Sozialdemokratie à la Schröder käme mir entgegen.In meiner Familiengeschichte gibt es außerdem etwas, das wie eine Hürde auf dem Weg in die politische Praxis wirkt: Meine Eltern waren beide Mitglieder der kommunistischen Partei.Das ist eine Sünde, die in Amerika von einer Generation an die nächste weitergereicht wird.Wenn in den USA über mich geschrieben wird, dann heißt es immer als erstes "Sohn prominenter Kommunisten". TAGESSPIEGEL: Sie haben einmal "Das Ende der Soziologie" verkündet.Glauben Sie dennoch, daß die Sozialwissenschaften wieder ein Ort für utopisches Denken werden könnten? SENNETT: Oh ja.Das Wichtigste, was wir als Intellektuelle tun können, ist eine Art utopisches Denken zu entwickeln.Die Gesellschaftskritiker müssen danach fragen, was hätte sein sollen.Darin liegt das Politische des Intellektuellen, der ja nicht sagen kann, mit dieser oder jener Maßnahme erreicht man folgendes Ziel.Die praktischen Einwände gegen die Veränderbarkeit der Welt interessieren den Intellektuellen nur am Rande.In den achtziger Jahren ist aber viel von dem Glauben an die Utopie verloren gegangen, so daß sie heute für viele nur aus leeren Phrasen zu bestehen scheint. TAGESSPIEGEL: In Ihren Büchern warnen Sie oft vor dem Bedeutungsverlust und der Entleerung des öffentlichen Lebens.Die Großstadt steht bei Ihnen immer für den Ort, wo das öffentliche Leben potentiell reichhaltig ist.Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die Veränderungen Berlins? SENNETT: Als Fremder scheint mir der Neubau der Stadtmitte ein Desaster zu sein - jedenfalls wenn es darum geht, ein lebendiges öffentliches Leben zu haben.Der Potsdamer Platz wird nachts ein toter Raum sein.Das grundlegende Problem liegt darin, daß sich Berlin auf einen Schlag neu erfinden wollte.Statt einen Raum zu bewohnen und die Stadt allmählich aus den Lebensformen der Menschen zu entwickeln, hat man einen Plan aufgestellt: dieses kommt dahin, jenes hierhin.Diese Art programmatischen Denkens schließt das eigentliche Leben aus.Städte funktionieren dort, wo ganz unterschiedliche Lebensformen aufeinanderstoßen und sich überschneiden.Der Pariser Platz zum Beispiel wird jedoch stets ein Ort für Touristen bleiben.Wäre ich boshaft, würde ich sagen, daß der eigentliche Triumph der DDR in den Planungen nach dem Fall der Mauer liegt.Denn nun hat man einen Plan, der tatsächlich der Stadt seinen Stempel aufdrückt. TAGESSPIEGEL: Wie wichtig sind Symbole für das städtische Leben, etwa das geplante Holocaust-Mahnmal für Berlin? SENNETT: Oft ist es so, daß die Errichtung eines Denkmals einer Sache seine symbolische Macht raubt.Die wirkungsvollsten Zeichen sind häufig Spuren, die das reale Leben im Stadtbild hinterlassen hat.Es ist eine sehr heikle Angelegenheit, solche Spuren zu bewahren oder neue Symbole zu schaffen.Denn häufig entstehen dadurch vollkommen lesbare Orte.Für Menschen wird ein Ort aber erst dann "bewohnbar", wenn er auch etwas Unlesbares hat.Das Unlesbare, Nichtauflösbare provoziert die Interaktion.Nur solche Dinge, die der Interpretation bedürfen, führen zu sozialer Teilhabe.Im Schwierigen, im Obskuren, im Unlesbaren haben meines Erachtens soziale Beziehungen ihren Ursprung. TAGESSPIEGEL: Wer Ihr neues Buch zur Hand nimmt, kann den Eindruck bekommen, daß Sie sich nach Ihren Studien zur Großstadtkultur nun den Klassenstrukturen zugewandt haben. SENNETT: Ich habe immer viel über die Klassengesellschaft geschrieben."Der flexible Mensch" ist jedoch das erste Buch zum Thema, das ins Deutsche übersetzt wurde.Ich versuche allerdings nicht, ökonomische Theorie zu treiben.Ich möchte verstehen, wie die Menschen die materielle Welt als Subjekte erfahren.Der Fehler des alten Marxismus lag doch darin, daß bei ihm keine Menschen vorkamen, sondern lediglich Kategorien.Die Marxisten sind nie losgegangen, um die Verwirrungen gelebter Erfahrungen zu betrachten.Genau darauf kommt es mir aber an.Ich bin kein Marxist im klassischen Sinne, ich glaube nicht an die Dialektik von Basis und Überbau. TAGESSPIEGEL: Sie beklagen, daß in der marxistischen Gesellschaftsanalyse die Menschen keine Rolle spielen.Bei Ihnen wiederum scheinen die Menschen nur als Opfer des Kapitalismus vorzukommen. SENNETT: Ich hoffe nicht, daß mein neues Buch den Eindruck erweckt, daß die von mir beschriebenen Menschen nur Opfer sind.Auch diejenigen, die gescheitert sind, machen Erfahrungen, die sie interpretieren müssen.Wenn die Interpretation gut ist, müssen sie zugeben, daß sie verletzt worden sind.Es wäre aber falsch zu glauben, daß es sich um passive Opfer in den Händen eines kapitalistischen Ungeheuers handelt. TAGESSPIEGEL: Wie können sich diese Menschen zusammenschließen und neue Formen der Solidarität entwickeln? SENNETT: Viele Menschen fühlen sich zwar isoliert, kämpfen aber auch dagegen an.Das ist das Paradoxe am Neoliberalismus: Er legitimiert sich über den Individualismus, aber er sorgt für Verhältnisse, die zu seiner Abschaffung führen werden.Der Neoliberalismus mit seinem Glauben, daß jeder für sich allein verantwortlich ist, bedeutet für die meisten Menschen eine Katastrophe. TAGESSPIEGEL: Kann man denn den Trend zur Individualisierung aufhalten? SENNETT: Um politisch etwas verändern zu können, müssen wir diese Ideologie der Selbständigkeit untergraben.Das heutige Regime kann nicht durch so etwas wie die Vereinigung ausgebeuteter Arbeiter gestürzt werden. TAGESSPIEGEL: Wodurch dann? SENNETT: Wir müssen eine neue ethische Grundlage schaffen.Die Menschen müssen anerkennen, daß sie einander brauchen.Das Bild vom autonomen Individuum muß delegitimiert werden. TAGESSPIEGEL: Aber für viele Menschen ist der Neoliberalismus keinesfalls ein Schreckgespenst.Im Gegenteil.Sie leben recht gut damit. SENNETT: Wenn die gegenwärtige Phase des Wohlstands endet, wird es zumindest in den USA eine Zeit echter Unruhen geben.Wir haben keine sozialdemokratische Tradition, auf die man zurückgreifen könnte.Die Linke der 30er Jahre mit all ihren Institutionen ist verschwunden.Heutzutage gibt es kaum noch Unterstützung für Menschen, die in Schwierigkeiten geraten.Die junge Generation ist auf die nächste Rezession vollkommen unvorbereitet.In Wirtschaftsmagazinen kann man Schlagzeilen lesen wie "Wird der Boom je enden?".Für wie dumm werden die Menschen eigentlich gehalten, daß man glaubt, ihnen einreden zu können, die guten Zeiten würden ewig andauern? TAGESSPIEGEL: Nicht nur Einzelne, auch viele Kommunen und Städte fühlen sich häufig ohnmächtig der Wirtschaft ausgeliefert.Welchen Ausweg gibt es für sie? SENNETT: In den USA gibt es zum Beispiel die "New Agora Movement", eine Art sozialer Bewegung.Hier wird der Versuch gemacht, die Erpressungsversuche nach dem Motto "Wenn ihr nicht wollt, investieren wir halt in Mexiko" zu durchbrechen, mit der Unternehmen gegenüber Städten und Gemeinden auftreten.In Wirklichkeit ist der globale Kapitalismus doch viel ortsgebundener als immer behauptet wird.Vor allem im Bereich des Konsums.Man kann die Produkte, die man in Tschechien oder Mexiko herstellt, dort nicht verkaufen.Diese Tatsache läßt sich politisch nutzen.Man kann sagen: wir haben hochqualifizierte Arbeiter, die ihr braucht oder hier werden eure Produkte konsumiert, ihr müßt daher der Gemeinde auch etwas zurückgeben und eure Angestellten entsprechend behandeln.Einige Firmen reagieren darauf sehr ablehnend, andere lassen mit sich reden.Es gibt zumindest vielversprechende Entwicklungen.Wichtig scheint mir, daß es gelingt, die vermeintliche Ortlosigkeit der globalen Wirtschaft in Frage zu stellen.

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