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Bregenzer Festspiele: Seeblick mit Sense

Kolossale Staute, Bühnenzauber, Sensenmann: Die Bregenzer Festspiele zeigen Giordanos Revolutionsoper „André Chénier“.

Wie die Wellen gegen die Schulter klatschen, in der noch die Wunde zu sehen ist, die der Dolch geschlagen hat, und wie der Blick sich weitet auf den See, auf die leuchtende, abenddämmrige Ferne – das hat etwas Fantastisches. Als würde die Musik direkt aus den Elementen entstehen, schaumgeboren. Tatsächlich sitzen die Wiener Symphoniker mit Dirigent Ulf Schirmer völlig woanders, der Klang aber wird von dem wundersamen, viel gepriesenen Lautsprechersystem BOA (Bregenz Open Acoustics) so unmittelbar, so erfrischend und direkt auf die Tribüne übertragen, dass man das Orchester direkt vor sich wähnt, in den Wellen.

Alle zwei Jahre überwältigen die Bregenzer Festspiele mit einem spektakulären Bühnenbild, und das müssen sie auch. Denn eine Seebühne hat Nachteile: die Spannung, die Enge, die künstlerische Dichte eines geschlossenen Theaters existieren hier nicht, sie werden schnell verweht von der Natur, von den Winden des Bodensees, sie versenden sich, wie man im Radio sagen würde. Das muss die Optik ausgleichen.

Intendant David Pountney, Regisseur Keith Warner und Bühnenbildner David Fielding haben für Umberto Giordanos Revolutionsoper „André Chénier“ – den Mut, ein so unbekanntes Stück zu zeigen, werden die Seefestspiele am Wannsee wahrscheinlich erst in vielen Jahren aufbringen, wenn es sie überhaupt so lange geben sollte – den riesigen, 14 Meter hohen Kopf des toten Jean Paul Marat nachbauen lassen, inspiriert von Jacques-Louis Davids Gemälde. Die Premiere war 2011, jetzt ist das Stück wiederaufgenommen worden.

Es ist ein Budenzauber, von dem sich das Bregenzer Publikum erneut mächtig beeindrucken lässt: Perücken, die in ihrer dekadenten Feinziselierheit schon das Ende der Aristokratie ankündigen, explodierenden Bastille-Torten, Artisten, die sich von der Stirn des Riesen abseilen und ins Wasser springen, ein Wasserfall, auf den der Sensenmann projiziert ist. Die Augen der Statue rollen, als seien sie lebendig, und während des Revolutionstribunals öffnet sich plötzlich der Kopf und klappt nach hinten weg. Die technische Perfektion, mit der diese Maschinerie abschnurrt, verlangt Respekt, und nur zwei Mal sorgt BOA für hässliche Rückkopplungen.

Giordano hat die Geschichte des Dichters André Chénier 1896 vertont. Der Protagonist ist ein ein Kämpfer des Wortes, der gegen das sich zunehmend radikalisierende Revolutionsregime mit der Feder anschreibt – ein Stoff, der durch alle Zeiten hindurch aktuell ist. In Syrien lodert auch gerade eine Revolution, offenbar befindet sich das Regime just in diesen Tagen im Todeskampf. Vor einem Jahr aber ließ es den Rapper Ibrahim Kashush töten und ihm, Symbolik ist alles, die Stimmbänder herausschneiden. Künstler als Regimekritiker – eine Liste mit Tradition: Bolat Atabajev, Ai Weiwei, Salman Rushdie, Wolf Biermann, Heinrich Heine, der junge Richard Wagner, Georg Büchner. Eines allerdings stört beim Bregenzer Bühnenbild: Marat war zwar auch Dichter, aber kein Opfer, sondern ein Bluthund der Revolution, der, bevor er von der Adeligen Charlotte Corday in der Badewanne erstochen wurde, Hunderte aufs Schafott geschickt hat.

Wie 2011 singt auch jetzt Héctor Sandoval den Chénier, mit herrlich weichem, geschmeidigem Tenorkern und großer Strahlkraft. John Lundgren ist sein Gegenspieler Gérard, ehemaliger Diener und zweifelnder Revolutionsführer, dessen Bariton sich kräftig und kernig verströmt. In der Rolle der unglücklichen Maddalena – Aristokratentochter und Geliebte Chéniers, die mit ihm in den Tod geht – berührt Tatiana Serjan mit eingedunkeltem, sich aber zu lichten Höhen aufschwingendem Sopran, vor allem in der berühmtesten Arie des Stücks, „La Mamma Morta“. 2013 ist übrigens wieder Schluss mit Experimenten, dann zeigt Bregenz die „Zauberflöte“. Das, zumindest, haben die Spiele am Berliner Wannsee schon hinter sich. Udo Badelt

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