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Kultur: Brennende Blätter

fürchtet den digitalen Gedächtnisverlust Mal ehrlich, misstrauen wir nicht alle gelegentlich den Segnungen der modernen Lebenswelt? Etwa den elektronischen Speichermedien?

fürchtet den digitalen Gedächtnisverlust Mal ehrlich, misstrauen wir nicht alle gelegentlich den Segnungen der modernen Lebenswelt? Etwa den elektronischen Speichermedien? Ist es nicht ein beruhigendes Gefühl, wichtiges Geschreibsel wie Arbeits- und Mietverträge, Steuererklärungen oder Romanmanuskripte in Papierform zu besitzen – und nicht nur auf Festplatten und CDs? Schließlich sind auch die gegen Feuer wie jenes von Weimar nicht gefeit.

Unser Misstrauen ist berechtigt. Manfred Osten bestärkt uns darin. Denn wo das gesamte Weltwissen scheinbar zur Verfügung steht, meint er, könnte das kulturelle Gedächtnis den Bach hinuntergehen. Mit der zunehmenden Fragilität der neuen Speichermedien sei der Gedächtnisverlust vorprogrammiert. Seine Thesen zur „Geschichte des Vergessens“ hat Osten in einem richtigen Buch aus Papier gedruckt. Am 10.9. stellt er seinen Essay „Das geraubte Gedächtnis“ (Insel) im Literaturhaus vor (Fasanenstr. 23, 20 Uhr).

Dass auch die Akademie der Künste ihre Schriftstellernachlässe in Papierform aufbewahrt, ist nur verständlich. Es wäre doch jammerschade, müssten wir die Manuskripte und Zeichnungen des eigensinnigen Dichters Uwe Greßmann am Bildschirm begutachten. Aber wer kennt den vor 35 Jahren gestorbenen Greßmann eigentlich noch?

Greßmann, im Waisenhaus und bei Adoptiveltern aufgewachsen, verdiente sich ein spärliches Salär als Bote für die HO-Gaststätten Berlin-Mitte. Mit dem zu weiten Mantel und den strähnigen, langen Haaren muss seine hagere Gestalt die Inkarnation eines Dichters gewesen sein. Voll gepumpt mit Lesestoff vom „Rolandslied“ bis zu Hegels „Phänomenologie“ wollte der Autodidakt Greßmann die Welt aus den Angeln heben. Als er 36-jährig an TBC starb, war mit „Der Vogel Frühling“ nur ein einziges Gedichtbuch erschienen. In den Schubladen aber schmorten ein „Faust“-Manuskript und ein unverfrorenes Werkchen, das die DDR als deutsches demokratisches Schilda darstellte. Eine Druckgenehmigung hätten diese Frechheiten nie erhalten. Umso wichtiger, dass sie nun Dank einer Greßmann-Ausstellung der Akademie der Künste (bis 30.11.) nicht in Vergessenheit geraten.

Dass das Gedächtnis selektiv funktioniert, erfährt Fritz Rudolf Fries immer noch schmerzlich. Das Eingeständnis seiner IM-Tätigkeit hat den früheren Jubel über seine großartigen Romane in den Hintergrund gedrängt. Dennoch gehören „Der Weg nach Oobliadooh“ oder „Alexanders neue Welten“ zur witzigsten, subversivsten und intelligentesten Prosa, die in der DDR geschrieben wurde. Am 9.9. stellt Fries um 20 Uhr im Brecht-Haus sein neues Buch vor (Chausseestr. 125, Mitte). In „Hesekiels Maschine“ (Das Neue Berlin) wimmelt es von Geheimagenten, die eigentlich Engel sind. Und der polyglotte Berichtgeber, tippt alles in seinen Laptop. Am Ende wird er ins Geschlecht der Sterblichen zurückgestuft und verliert womöglich seine Fähigkeit, in fantastischen Zusammenhängen zu fabulieren. Vorher hat er seinen Text glücklicherweise ausgedruckt.

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