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Gottfried Benn (rechts) zu Besuch bei Friedrich Wilhelm Oelze und dessen Frauen, in einer undatierten Aufnahme aus den fünfziger Jahren.

© DLA Marbach

Briefwechsel von Gottfried Benn und Friedrich Wilhelm Oelze: Mein Volk ist mir unerträglich

Jahrhunderterzählung im Dialog: Die Korrespondenz von Gottfried Benn und Friedrich Wilhelm Oelze ist ein Ereignis.

Von Gregor Dotzauer

Sieben Jahre vor seinem Tod, im letzten Gedicht des Zyklus „Epilog“ (1949), machte Gottfried Benn schon einmal vorsorglich darauf aufmerksam, dass er sich und anderen für immer ein Geheimnis bleiben werde. „Die vielen Dinge“, schrieb er, „die du tief versiegelt / durch deine Tage trägst in dir allein / die du auch im Gespräche nie entriegelt, / in keinen Brief und Blick sie ließest ein, // die schweigenden, die guten und die bösen, / die so erlittenen, darin du gehst, / die kannst du erst in jener Sphäre lösen, / in der du stirbst und endend auferstehst.“

Wehmütiger ist die tiefe, bis zur vollkommenen Selbstverborgenheit reichende Einsamkeit des Menschen wahrscheinlich nie festgehalten worden. Er konnte damals noch nicht ahnen, dass Literaturwissenschaftler posthum fast jeden Tag seines Lebens ausleuchten und jedes neu entdeckte Bierdeckelgedicht zehn Mal umdrehen würden. Vor allem glaubte er, dass seine Briefe, mit denen er obsessiv seine mangelnde Gesprächigkeit in Gesellschaft kompensierte, den Raum des Privaten nie verlassen würden.

In den Korrespondenzen mit Thea Sternheim und deren Tochter Mopsa, mit den Geliebten Astrid Claes und Ursula Ziebarth öffnete er sich unvermutet – und mehr als alles andere in dem ein Vierteljahrhundert, von 1932 bis 1956, andauernden Austausch mit dem Bremer Kaufmann Friedrich Wilhelm Oelze. Heute stehen diese Briefe als biografische Auskunftei und poetologischer Steinbruch fast gleichberechtigt neben dem Werk. Ihnen entstammen zum geflügelten Wort gewordene Sentenzen wie „Gute Regie ist besser als Treue“, und sie bilden eine entscheidende Quelle der jüngsten Benn-Porträts von Joachim Dyck („Der Zeitzeuge“) und Holger Hof („Der Mann ohne Gedächtnis“).

Das Maß an Bekenntnishaftigkeit der Briefe konnte nur entstehen, indem Dritte als Leser ausgeschlossen waren

Die große Leerstelle in diesen Korrespondenzbergen war bisher nur Friedrich Wilhelm Oelze. Er wollte nicht nur nach Benns Tod, sondern über seinen eigenen Tod im Jahr 1978 hinaus ausgespart bleiben. Insofern ist es eine Sensation, dass nun in vier dicken Bänden neben Benns Briefen erstmals auch Oelzes Anteil vorliegt. Wie, muss man nun sich fragen, konnte man diesen Austausch zuvor in seiner Bedeutung auch nur annähernd verstehen? Die praktische Erklärung ist einfach: Oelze hatte die Veröffentlichung seines Parts testamentarisch untersagt, mündlich gegenüber dem Herausgeber Harald Steinhagen zuletzt aber erklärt, dass es keinen Grund gebe, die Briefe auf Dauer unter Verschluss zu halten.

Tatsächlich waren sie weder von Benn noch von Oelze je auf Veröffentlichung angelegt. Das ihnen mögliche Maß an Bekenntnishaftigkeit konnte überhaupt nur entstehen, indem Dritte als Leser ausgeschlossen waren – darunter die Ehefrauen, obwohl man einander gerne des familiären Wohlwollens versicherte und Grüße ausrichtete. Es ist etwas anderes, dass Oelze die Briefe hortete und hütete und sich als Benns Lebenswegzöllner unentwegt bemühte, den Schatz zu mehren.

Das zuverlässig kommentierte Konvolut ist, Benn betreffend, nunmehr vervollständigt, und es hat, Oelze betreffend, nur Lücken in den NS-Jahren. 1936 hatte die auflagenstarke SS-Wochenzeitung „Das Schwarze Korps“ Benns „Gesammelte Gedichte“ als unzeitgemäße Ferkelei attackiert. Aus Angst vor einer Wohnungsdurchsuchung durch die Gestapo vernichte Benn auf Oelzes Wunsch einige Briefe. Andere gingen verloren, als Benn im Frühjahr 1945 vor den Russen aus seiner Kaserne im heute polnischen Landsberg an der Warthe floh, wo er als Militärarzt gearbeitet hatte.

Die schriftliche Freundschaft half beiden über dunkle Stunden hinweg

Mit der Ausgabe gewinnt nun auch die Person Oelze an Profil. Außer in einem Essay des Germanisten Hans-Dieter Schäfer („Herr Oelze aus Bremen“) in der Reihe der Göttinger „Sudelblätter“ und einem entbehrlichen Roman von Marlis Thiel („Der Kaufmann und der Dichter“), der noch zusammenspinnen musste, was jetzt zu lesen ist, blieb sie auf eine Nebenrolle beschränkt. Was er selbst durch die Erklärung förderte, dass seinen Briefen nichts „als die Bedeutung von Anregungen, Stichworten, Fragestellungen“ zukomme: „Alles Wesentliche enthalten die Antworten des Dichters.“ Davon kann keine Rede mehr sein.

Der promovierte Jurist, 1891 geboren, war als Teilhaber der in Bremen und Hamburg ansässigen Firma Menke & Co mit dem Handel von Kolonialwaren und Beteiligungen an Firmen in Danzig und Warschau wohlhabend geworden. Schon der Großvater mütterlicherseits hatte auf Jamaika Zuckerrohrplantagen erworben, die ihm später ein Imperium mit Rumimporten bescherten. 1932 schrieb er als begeisterter Leser mehrfach an Benn, der seine ersten Briefe aber einfach wegwarf. Zwei Jahre später, Benn war von seiner anfänglichen Begeisterung für den Nationalsozialismus ernüchtert und ging auf Distanz zum Staat, war die Zeit reif für eine schriftliche Freundschaft. Sie fand ihren Niederschlag in rund 1500 Briefen und half beiden Seiten zu unterschiedlichen Zeiten über dunkle Stunden hinweg.

Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, mit ein paar handlichen Formeln Schneisen durch dieses Textmassiv zu schlagen. Doch darf man behaupten, dass Oelze intellektuell sehr wohl mit Benn konkurrieren konnte, wenn er ihm an bildungsbürgerlicher Geläufigkeit nicht sogar überlegen war. Er kannte sich bestens aus in der Musik- und Kunstgeschichte, verfügte überdies über ausgezeichnete Englischkenntnisse – nur nicht über jenen aus dem Ärmel geschüttelten, manchmal fast schnoddrigen Stil, auf den sich sein Gegenüber verstand. Benn mag in diesem geistigen Feuerwerk die größeren Kracher detonieren lassen und die leuchtkräftigeren Pointen abfeuern: In Sachen abgründiger Geständnisse, Seitenhiebe auf die Zeitläufte und Lektüreempfehlungen sind sie einander ebenbürtig.

Öfter als einmal im Jahr sahen sich die Korrespondenten selten

Diese beiden sonst wesensfremden Menschen brauchten und ergänzten einander: der hochseriös, ehrerbietig, geradezu unterwürfig auftretende Oelze, und Benn, der sich auf den schnellen Registerwechsel verstand und im Zweifel die Freuden der Bierkneipe und des Krimilesefutters gegen die haute cuisine im literarischen Olymp verteidigte. Eigentlich Unvereinbares wurde vereinbar: Oelzes Körperfeindlichkeit, zu der auch die Unterdrückung seiner homosexuellen Neigungen gehört, über die er nur in Andeutungen spricht, trifft auf Benns unromantische Einstellung zur Sexualität. Der sich in Affairen ergehende Facharzt für Geschlechts- und Hautkrankheiten betrachtete sie als Teil eines funktionalistischen Apparats. Ansonsten nährte Benn mit Eifer die Bedürfnisse seines größten Verehrers, der wiederum seinen „Maître“ mit Weinsendungen bei Laune hielt und ihm überdies als Lektor, Leihbibliothekar und Übersetzungsgutachter zur Seite stand.

Gottfried Benn - Friedrich Wilhelm Oelze: Briefwechsel 1932 - 1956.
Gottfried Benn - Friedrich Wilhelm Oelze: Briefwechsel 1932 - 1956.

© Promo

Wie gut, wie physiognomisch genau Oelze schreiben konnte, zeigt exemplarisch die 1965 entstandene „Erinnerung“, die der von 1977 an erscheinenden Erstausgabe der Benn’schen Briefe voranstand und nun auch die Korrespondenz einleitet. Oelze porträtiert Benn darin in dessen Habitus und leisem Sprechen, „eine Stimme in der Dämmerung, in der er sein Leben zu verbringen liebte. Keine seiner Wohnungen, keine seiner Arbeitsräume empfingen direktes Sonnenlicht, grelle Tagesbeleuchtung war ihm physisch fast zuwider.“ Und er beschreibt ihn in seiner Schizophrenie: „einerseits leidenschaftliche Auflehnung gegen seine Zeit und ihre zivilisatorischen Erscheinungsformen, andererseits Hinnahme des realgeschichtlichen Prozesses als einer unabänderlichen Gegebenheit“.

Möglich wurde so viel schriftliche Intimität erst durch die leibhaftige Distanz. Die beiden trafen sich zwar in der Regel mindestens einmal pro Jahr, einer höheren Besuchsfrequenz widersetzte sich Benn. Nachdem er Oelze 1936 im Hannoveraner Weinhaus Wolf begegnet war, das auch einer seiner eindrucksvollsten Prosadichtungen den Titel gab, schrieb er an Tilly Wedekind: „Wirklich ein merkwürdiger Typ. Gänzlich undeutsch. Sieht älter aus, als er ist (45 J.), Haar fast weiß, sehr schlank, schmales spitzes Gesicht, Gesichtsfarbe rötlich wie bei Lungenkranken, unwahrscheinlich gut angezogen. Er sieht eigentlich aus wie aus einer Revue, Hoffmanns Erzählungen, am Rand von Wirklichkeit u. Halluzination“.

Das Ringen um die geistige Welt

Oelze erfuhr von solchen Vorbehalten höchstens praktisch – oder indirekt. „Wollen Sie wissen“, fragte Benn ihn 1951, „was meine Tochter, deren Gedanken sich viel mit Ihnen beschäftigen, unter Anderem sagte? ,Eine unheimliche Erscheinung! Man muss damit rechnen (!), dass er nachts ein schwarzes Trikot anzieht u. auf Einbruch geht’. Nun? Wenn das kein Effekt ist!“ Oelze reagiert erst im übernächsten Brief, erst mit einem Kompliment für Nele („die Frau mit dem grössten menschlichen – nicht nur ,weiblichen’ - charm, die mir wohl je begegnet ist“). Doch dann treibt er sich in einer Betrachtung mit dem Titel „Das schwarze Trikot“ in eine grandiose Gewissenszerfleischung hinein.

„Also: Hochstapler, Verbrecher? oder: propensity for crime, Hang, endogene Neigung zum Verbrechen? Niemand von uns weiss ja, wie er aussieht, trotz Spiegeln und Photographien, noch weniger, wie er wirkt. (…) Also was ist es, das Ihre Tochter sah? Ist es möglich, dass der abnorme Mangel an Fähigkeit, zu lieben, und die fast bis zum Exzess ausgebildete Fähigkeit zu hassen, – den sogenannten Nächsten zu hassen, und den Fernsten und das Fernste zu lieben, das Ausser- und Gegenmenschliche zu lieben, aber nicht ,Gott’ –, ist es möglich, dass innere Orgien des Hasses, des Zweifels, des Selbstzerstörungstriebes, des Nichtliebenkönnens, – ist es möglich, dass alles dies sich hinter unsern Zügen, hinter unsern Gesten für den Sehenden ausdrückt, – ist es möglich, daß wir hassenswert sind, weil wir selbst hassen; verbrecherisch, weil wir in Gedanken das Verbrechen begünstigen, das die verhasste Gesellschaft unterminiert; Einbrecher, weil die dem sozialen Menschen geheiligten Bezirke uns zerstörenswert dünken – – liegt also das eigentliche Verbrechen im Gedanken, nicht in der Tat?“

Diese Jahrhunderterzählung im Dialog ist auch deshalb ein Ereignis, weil sie vom Ringen um eine geistige Welt zeugt, deren Wahrheit ungeachtet aller Irrtümer, Bosheiten und Vorurteile im Vertrauen darauf liegt, dass es inmitten aller Zufälle und Abgründe doch treffende Worte und ernsthafte, alles aufs Spiel setzende Gedanken gibt. Sie spiegelt beider Fremdeln mit dem eigenen Land über zwei politische Systeme hinweg. Insbesondere Oelze haderte mit Adenauers Bundesrepublik. „Mein eignes Volk ist mir unerträglich geworden“, schrieb er 1951, „dieser katholische Fascismus mir so contre cœur, dass ich mich stumpf gemacht habe gegen Ost und West gegen Rechts und Links, gegen persönliche Vorteile und Nachteile – ich hasse sie nur. Das große Aufräumen wird erst kommen. Hitler war ein Dilettant.“

Auch in der Mitschrift des literarisch-philosophischen Lebens war Oelze wenig zimperlich. Thomas Manns Lob des Emigranten Peter de Mendelssohn: „Provinzzeitungsjargon“. Heidegger: ein platter Wortzauberer. Henry Miller: langweilige Pornographie. Man muss kein Benn-Leser sein, um aus alledem vergnüglichen Aufschluss über die Zeit zu ziehen. Man wird danach nur unbedingt einer werden wollen.

Gottfried Benn, Friedrich Wilhelm Oelze: Briefwechsel 1932 - 1956. Hrsg. von Harald Steinhagen u.a.. Wallstein/Klett-Cotta, Göttingen und Stuttgart 2016. 4 Bände, 2334 S., 199 €.

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