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Bessere Frisuren. Oasis – hier Sänger Liam und Gitarrist Noel Gallagher 1996 – standen stets zu ihrer proletarischen Herkunft. Foto: dpa

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Britpop: Ruhm ist ein fauler Zauber

Insider-Abrechnung Mitte der 90er Jahre kämpften Blur und Oasis um den Titel der größten Britpop-Band. In Wahrheit war es nur ein Streit darüber, wer am lautesten schreien kann

Im Sommer 1994 druckt der NME wöchentlich imaginäre, der Fußball-Liga entlehnte Tabellen für Bands ab, die auf Positionen in den Charts, Kritiken etc. basieren. Die Leser können auch Bandmitglieder auswählen und eine Fantasieband zusammenstellen, Mitglieder anderer Bands kaufen und transferieren. Obwohl es vollkommen belanglos ist und im Widerspruch zu allem steht, was mir damals durch den Kopf geht, zeigt es doch deutlich mein Dilemma. Die Musiker sind in drei Ligen eingeteilt: Die der ersten Liga haben einen Marktwert von drei bis vier Millionen Pfund, die in der zweiten von zwei Millionen aufwärts, und die dritten liegen zwischen einer und anderthalb Millionen. Und genau da hänge ich fest, für mich geht es weder hoch noch runter – ich bin und bleibe an der Spitze der dritten Liga. Zwischen Baum und Borke.

Britpop war wie eine Ratte in meiner Küche. Zuerst sah ich sie gar nicht, hörte nur spätnachts gelegentlich ein Huschen und sah einen dunklen Schatten mit hässlichem Schwanz in eine finstere Ecke oder unter den Kühlschrank verschwinden, wenn ich das Licht anschaltete. Dummerweise dachte ich, dass sie schon wieder verschwinden würde, aber das Scheißvieh vermehrte sich. Schon bald sah ich selbst am Tage ein paar Ratten, manchmal zogen sogar zwei oder drei gemeinsam durch die Straße. Bei jedem noch so leisen Geräusch spitzte ich die Ohren, und ich drehte den Kopf im Terminator-Stil in die Richtung, aus der es kam. Ich blieb stocksteif stehen, starrte in eine dunkle Ecke und guckte, ob sich etwas bewegt. Ob ich Fallen aufgestellt hatte? Na ja, ich versuchte es mit Klebefallen, nur um morgens nach dem Aufwachen die Spur auf dem Leim zu entdecken, ohne eine Ratte gefangen zu haben. Manchmal lag ich wach und meinte, das Quieken lachender Ratten zu hören, die sich über mich lustig machten. Die Plage drohte mich um den Verstand zu bringen.

Die bewegten Anfänge des Britpop fallen in die Zeit nach dem Tod Kurt Cobains in den Jahren 1992/93, die absurden Höhenflüge und Tiefpunkte der britischen Musikszene folgten in den Jahren 1994 und 1995. Die Tatsache, dass es Britpop gab, ist unbestreitbar – dass er in den Jahren 1995–97 ein gewisses Niveau erreicht hatte, ist allerdings ein weit verbreiteter Irrtum. Nachdem sie in der Nachfolge von Suede und den Auteurs den Grundstein gelegt hatten, wurde die Mehrzahl der Übeltäter, die fälschlicherweise als die erste Welle des Britpop angesehen wird – Oasis, Elastica, Gene und Sleeper –, von den Plattenfirmen Mitte bis Ende 1993 unter Vertrag genommen, nachdem Blur und Suede relativ erfolgreich in den Charts vertreten waren und sich bei Pulp kommerzieller Erfolg abzeichnete – wie auch, Sie haben es erraten, bei den Auteurs.

Man muss dazu sagen, dass keine der erwähnten Bands irgendetwas mit Britpop zu tun haben wollte – niemand wollte zur Szene eines anderen gehören –, außer den chronischen/gewohnheitsmäßigen Nachmachern Blur, die versuchten, auf jeden fahrenden Zug aufzuspringen. „Parklife“ ist in erster Linie ein Meisterwerk in Medienkomplizenschaft.

Dann gab es noch Radiohead, die einzige Band, die aus der Sache unbefleckt herausgekommen ist. Zur Zeit ihres ersten Albums – direkt nach dem Debüt der Auteurs – war es sicher der „Britpop“-Kitzel, der sie anstachelte. Live hatte sich Radiohead jedoch – und das war noch vor der händeringend-konspirativ-theoretisierenden-meta-friedensbewegten Phase der Band – ziemlich schnell in das abscheulichste Wesen verwandelte, das man sich vorstellen konnte: eine Heavyrock-Band, mit Horrorperücken und allem Drum und Dran. Eine falsche Bewegung, und sie wären im Tal der Tygers of Pan Tang für alle Ewigkeit verschwunden. Aber da, welch köstliche Ironie, eilten unsere Brüder auf der anderen Seite des Atlantiks den Kumpels aus Oxford zu Hilfe: Ende 1993, als die Plattenfirmen anfingen, dem Affen Zucker zu geben, um die zweite Welle der Nachfolgerbands von Suede und den Auteurs aufzubauen, war „Creep“ ein großer Hit in den USA. Radiohead Chelsea hatte geschafft, woran Oasis, Blur, Suede und Pulp gescheitert waren – Amerika zu erobern. Und, was noch wichtiger war, sie hatten damit eine Immunitätskarte gegen Britpop gezogen.

Es gab zwei fundamental unlösbare Probleme beim Britpop. Zum einen den Begriff selbst. Kann man das Wort laut aussprechen, ohne dass es einem zumindest ein bisschen peinlich ist? Kann man es auch nur denken, ohne dass einen ein leichter Schauder ergreift? Typisch ausgedacht von den berufsmäßigen Speichelleckern bei den Plattenfirmen, denen wahrscheinlich nicht bewusst war, dass es den Begriff früher schon gab und dass damit der extrem seichte Unterhaltungspop vor den Beatles mit Orchesterarrangements im Stil von Norrie Paramour bezeichnet wurde, die die Hitparaden an verregneten Sonntagabenden im Winter 1960 blockierten.

Und der war nicht einmal halb so gut, wie er jetzt bei mir klingt. Das andere Problem war Amerika. Für britische Plattenfirmen war es lebenswichtig, dass sich ihre Acts in den USA, dem größten Musikmarkt der Welt, verkauften. Vergessen Sie bei meiner nächsten Frage nicht, dass die gesamte Musikindustrie sich mit den Massenmedien verbündet hatte: Wie zum Teufel hätte man sonst auch etwas, das sich Britpop nannte, in den USA verkaufen sollen?

1995, in einem prosaischeren Universum als dem meinen, gerieten immer mehr Bands unabsichtlich in die Fänge des Britpop. Pulp steckten bis zum Hals drin, die Boo Radleys, die es schon seit Jahren gab, spielten einfach fröhlich mit. Furchtbar. Was anfangs wie ein leichter Schnupfen aussah, entwickelte sich zur Pest der modernen Welt: Powder, Marion, Echobelly, Menswear, Kula Sh… Noch nicht. Ich kann mich nicht überwinden, das niederzuschreiben.

Vielleicht später, wenn es gar nicht anders geht. Die dicken Fische konnten nicht weg, sie mussten im kleinen Teich schwimmen, und genau da hat Britpop den größten Schaden angerichtet. Der Oasis-Blur-Streit im Sommer 1995 war kaum mehr als ein Wettkampf darum, wer am lautesten schreien konnte. Ein recht durchschaubares Konzept, aber der negativste Effekt dieses faulen Zaubers bestand darin, dass die Medien und die Plattenfirmen, wie schon bei dem Versuch, den Yanks Britpop zu verkaufen, alle unter einer Decke steckten. Von diesem Augenblick an war der englische Rock gezwungen, sich selbst zu erniedrigen und den gefallenen Engeln der leichten Unterhaltung seinen Tribut zu zollen. Nichts würde wie früher sein. Ich nahm meinen Besen zur Hand und fegte mein wunderbares eigenes kleines Reich aus und fragte mich, wie lange ich eine feindliche Übernahme verhindern konnte.

Beim Nacherzählen der neueren Geschichte ist es zur Gewohnheit geworden, unvollendete Erzählstränge unnötigerweise miteinander zu verknüpfen. Ich werde das lassen. Wenn ich einen hübsch geschnürten Knoten sehe, werde ich ihn aufpulen und die Fäden demonstrativ lose baumeln lassen; es gibt keine Geschichte von einer politischen Partei, die sich neue Schuhe anzieht und tanzend zu den Klängen der frühen Bluetones in die Downing Street Nummer 10 einzieht.

Abgesehen von Oasis hatte die Öffentlichkeit im Sommer 1996 das Interesse an Musik fast völlig verloren. Der beste Beweis dafür war die üble „Three Lions“-Hymne, die ohne Ende in englischen Pubs gejohlt wurde, als England aus der Endrunde der Europameisterschaft flog. Was Fußball-Songs betrifft, kann „Football’s coming home …“ einfach nicht mit dem Chelsea-Hooligans-Mantra aus den frühen Siebzigern „We hate humans“ mithalten.

Lassen wir es erst einmal gut sein. Wir werden im Laufe der Geschichte notgedrungen noch häufiger auf Britpop zu sprechen kommen. Es ist an der Zeit, die alte Frau zu wecken. Gut geschlafen, meine Liebe? Ich habe Ihnen eine schöne Kanne Tee gemacht und einen Teller Kekse mitgebracht. Ich fürchte, es ist noch ein weiterer Aktenschrank voller Erinnerungen da, der durchgesehen werden muss.

Radiohead verwandelten sich in ein abscheuliches Wesen:

eine Heavyrock-Band mit Horrorperücken und allem drum und dran

Luke Haines:

Bad Vibes.

Britpop und der ganze Scheiß.

Aus dem Englischen von Gunnar Kwisinski. Heyne Hardcore, München 2010, 320 S., 12 €. Erscheint

am 13. September.

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