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Kultur: Brot bei die Fische

Gregor Gysi und Frank Castorf diskutieren im Deutschen Theater

Frank Castorf setzt sich im Deutschen Theater gleich links neben das Goldfisch-Aquarium. Die Fische und der Intendant besitzen ungefähr dasselbe kommunikative Temperament. Castorf hat außerdem noch einen Kaugummi im Mund. Immerhin trägt er einen Anzug, was ihm die Aura eines verkleideten melancholischen Trappers verleiht. Gysi dagegen wird mit Anzug erst Gysi, das war schon früher in der DDR so, als Castorf noch Gysi vor seinen Anklamer Premieren fragte: „Du, kannst du dich mal um meine Eltern kümmern?“ Frank Castorfs Vater war privater Eisenwarenhändler, also, wie Gysi sagt, irgendwie ein Teil der Opposition, trotzdem muss der Sohn dem Vater nicht das volle Verständnis seiner Stücke zugetraut haben. Und Gysi war nun mal der einzig vertrauenserweckend gekleidete Zuschauer weit und breit.

Mit dem Eisenwarenhändlersvater fängt Gysi an. Er hätte gedacht, das Kind eines Eisenhändlers wird wieder Eisenwarenhändler. Castorf schaut Gysi an, gut jetzt, dass er seinen Kaugummi hat, und schließlich sagt er doch was, ganz leise, muss ja nicht jeder hören. Frank Castorf illustriert die These John Lennons, dass Leben das ist, was dir passiert, während du andere Pläne machst. So kam er an das Theater Senftenberg, dann ans Theater Brandenburg, und so kam er jedesmal wieder weg. Castorf erklärt seine erste Brandenburger Inszenierung „Golden fließt der Stahl“, wo ein progressiver DDR-Ingenieur von West-Dunkelmann in den Hochofen geschubst wird. Ein Mensch, fügt Castorf mit plötzlicher Innigkeit an, ist im flüssigen Stahl nicht nachweisbar, es sei denn, er hatte einen Goldzahn.

Gysi ist jetzt so still wie die Fische und wird es auch bleiben, denn der Intendant findet an diesem radikaldramatischen Gegenstand zu einer völlig castorf-untypischen Beredsamkeit. Er spricht, wie er inszeniert. In großen, ein bisschen anarchischen Schleifen, die irgendwann einen überraschenden Sinn ergeben. Der Intendant spricht über den „Freizeitpark DDR“, über den Zusammenhang von Kapitalismus und Depression, über die Dialektik von Anarchie und Diktatur, über die Erotik des Verrats unter besonderer Berücksichtigung der Berliner Politik, über die Nichtexistenz des Publikums und die Existenz von Publikümern, über die Wirklichkeit als theatralische Inszenierung sowie über die Peinlichkeit als Kunstform.

Da begreifen wir den Kaugummi. Ein Mensch über fünfzig mit Kaugummi auf der Bühne ist natürlich peinlich, andererseits ist die Peinlichkeit die letzte Zuflucht der Anarchie. Gysi versteht das nicht, er will immer wissen, warum dieser so erfolgreiche Mann irgendwie traurig wirkt. Weil ein mit Preisen überhäufter Anarchist schon wieder peinlich ist? Castorf und Gysi kennen sich schon ewig, sie sind fast gleich alt und trotzdem grundverschieden. Castorf wäre nie Anwalt geworden und Gysi würde immer vorher den Kaugummi rausnehmen. Und dann gesteht Frank Castorf seine tiefste Sorge: Dass das Studentenleben irgendwann doch vorüber sein könnte. Gysi besieht irritiert seine Bügelfalte.

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