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Kultur: Brüder unter sich

Jüdische Identitäten zwischen Tel Aviv und Wien: Doron Rabinovicis Roman „Andernorts“

Wir müssen nicht lange raten, worum es Doron Rabinovici in seinem vor kurzem für die Shortlist des Buchpreises nominierten Roman „Andernorts“ geht. Auf einem Flug von Tel Aviv nach Wien wird Ethan Rosen gefragt, ob er ein Israeli sei? Er antwortet mit „Ja“, will unaufgefordert seinen Pass vorzeigen und mutmaßt über denjenigen, der ihn so entwaffnend gefragt hat: zionistische Vorsätze würden den Weg in die Diaspora pflastern. Es geht also um jüdische Identität, darum, welchen Einfluss Lebensumstände auf das Selbstverständnis von Juden haben.

Gleich zu Beginn wird ein weiterer wesentlicher Aspekt deutlich: Rabinovici möchte ein Spiel mit Identitäten treiben. Rosen gibt sich noch im Flugzeug als Johann Rossauer aus, als ein Österreicher, der unbedarft ist, wenn es um jüdisches Leben geht. Die Verwirrungen, die dann folgen, lassen sich nicht mehr mit einem Lächeln aus der Welt schaffen. Nach seiner Ankunft in Wien ruft er bei einem Redakteur einer Wiener Zeitung an. Er will eine Antwort auf einen Nachruf schreiben, den ein gewisser Klausinger über Dov Zedek verfasst habe, einen Freund von Ethan. In seiner Antwort lässt Ethan kein gutes Haar an dem Nachwort-Schreiber. Klausinger hatte sich gegenüber Dov Zedeks Projekt, Jugendreisen von Israel aus zu den Gedenkstätten ehemaliger KZs zu organisieren, reserviert geäußert, Ethan sieht darin ein verdeckt antisemitisches Denken. Von dem Zeitungsredakteur muss er sich jedoch darüber aufklären lassen, dass Klausinger ihn, Ethan nämlich, zitiert habe und dass er, Ethan, in einer israelischen Tageszeitung genau die Auffassung, die er nur kritisiere, vertreten habe.

Damit nicht genug. Die Widersprüche und Ungereimtheiten, in denen sich Rabinovicis Figuren verfangen, nehmen noch groteskere Formen an. Ethan bekommt gesagt, man verstehe ja, dass er einen Mitkonkurrenten um einen Lehrstuhl in Wien, auf den sich nicht nur Ethan, sondern auch Kausinger beworben habe, mit einem scharf geschriebenen Artikel schwächen wolle. Allerdings wird ihm auch signalisiert, gegen Meinungsverschiedenheiten unter Berufskollegen sei nichts einzuwenden, wenn er sich so aber Vorteile in einem Bewerbungsverfahren verschaffen wolle, dann solle er in Zukunft behutsamer Vorgehen oder besser ganz auf Polemiken dieser Art verzichten.

Spätestens an dieser Stelle muss klargestellt werden: Ethan ist kein Tor nach dem Muster jener Romanfiguren, die durch die Welt stolpern und damit ihr Glück machen. Er ist ein Intellektueller, ein streitbarer Geist und weit davon entfernt, sich auf dumme Weise Vorteile verschaffen zu wollen – und wir begreifen: Es ist ein Unterschied ob ein Israeli eine Meinung innerhalb seines Landes vertritt oder ob er im Geburtsland von Hitler über die gleichen Fragen nachdenkt!

Rabinovici treibt also nicht nur ein Spiel mit jüdischen Identitäten, er bringt sie auch systematisch zum Einsturz. Dabei geht er sehr weiter: Er macht für einige Zeit aus Ethan und Klausinger ein Brüderpaar, lässt Dov Zedek, über dessen Arbeit sie sich zerstritten haben, deren gemeinsamer Vater sein. In diesem breit ausgesponnenen Erzählstrang geht es nicht mehr nur darum, ob ein im Ausland lebender und geborener Jude anders denkt und redet, als Juden, die in Israel aufgewachsen sind. Es geht um Herkünfte, Familien, Erziehung und den Einfluss, den die von Nachgeborenen nicht gewählten Lebensumstände auf ihr Denken und Empfinden ausüben. Identität sind nichts gegebenes, will uns Rabinovici sagen, sie wachsen.

So weit, so gut, doch gut ist in Rabinovicis Roman nicht alles. An seinen Haltungen und intellektuellen Einsichten ist nichts auszusetzen. Die Konstruktion des Romans beginnt jedoch dann unangenehm zu knirschen, wenn er aus Ethan und Klausinger Brüder macht. Das ist ein Zufall zu viel in einem mit zufälligen Begebenheiten ohnehin nicht sparsam umgehenden Roman: Die Glaubwürdigkeit der Geschichte leidet. Gelegentlich versinkt Rabinovicis Prosa, um die Glaubwürdigkeitslücken zu schließen, in sentimental angehauchte Untiefen.

Glücklicherweise besteht „Andernorts“ nicht nur aus einem vermeintlichen Bruderduell. Der Roman ist reicher. Zurückhaltend schreibt Rabinovici über die Liebe zwischen Eltern und Kindern, über die Liebe zwischen Männern und Frauen. Vor allem aber verfügt er über viel Humor. Ein ultrafrommer Rabbiner hat seinen großen Auftritt, es geht um eine Niere, um Bluttests und den Versuch, einen Vater zu retten und den Messias vielleicht auf dem Weg der künstlichen Befruchtung auf die Welt zu verhelfen. Das ist schön verdreht, hat Witz, und wir können nur froh sein, dass es mittlerweile wieder einige jüdische Autoren deutscher Sprache gibt, die sich zu Wort melden und über ihr Leben schreiben. Trotz gewisser Überspanntheiten verspricht dieser Roman eine anregende Lektüre – und er hält sein Versprechen auch.

Doron Rabinovici: Andernorts. Roman. Suhrkamp Verlag,

Berlin 2010.

288 Seiten, 19,90 €.

Klaus Siblewski

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