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Kultur: Brünhilde singt im Badehaus

Draußen vor der Stadt, da ist die Hoffnung: Gesundheit, Luft, ein neues Leben. Draußen vor der Wirklichkeit, da gibt es noch die Utopie: Gleichheit, Brüderlichkeit, ein besseres Dasein.

Draußen vor der Stadt, da ist die Hoffnung: Gesundheit, Luft, ein neues Leben. Draußen vor der Wirklichkeit, da gibt es noch die Utopie: Gleichheit, Brüderlichkeit, ein besseres Dasein. In den Beelitzer Heilstätten, eine Dreiviertelstunde Autofahrt vor Berlin, sind diese Träume gründlich begraben. Und doch haben sich im maroden Gemäuer der einst bedeutendsten Lungenheilstätte Deutschlands die verlorenen Ideale des 19. und 20. Jahrhunderts lebendig gehalten wie an kaum einem anderen Ort. Die Ende des 19. Jahrhunderts von Berlins bedeutendsten Krankenhausarchitekten erbaute Anlage ist komplett erhalten. Auch die Rote Armee, die nach 1945 hier ihr größtes Lazarett außerhalb der Sowjetunion einrichtete, hat so gut wie nichts daran geändert. Nun steht alles zum Verkauf: Ein Kapitel der neueren Geschichte, eigentlich zwei, geht endgültig zuende.

Vorbei!: Das hängt als Stimmung seit dem Abzug der russischen Soldaten zwischen den langsam zuwuchernden Bauten und breitet sich aus auf den mit Unkraut bewachsenen Wegen. Da mag der überlebensgroße, steinerne Sanitäter mit der Kalaschnikow in der einen und dem zusammengerollten Feldbett in der anderen Hand auch noch so standhaft sein. Die letzten Jahre hielt er am Eingangsrondell des Männersanatoriums einsam Wache. Das Festival "Theater der Welt" verschaffte ihm zumindest für zwei Tage Gesellschaft.

Auf Einladung des Festivals richteten Christian Boltanski, Ilya Kabakov und Jean Kalman dort eine temporäre Installation ein, die all die sich überlagernden Zeitschichten noch einmal zum schwingen, die verloren gegangenen politischen Ideale in Erinnerung brachten. Und noch ein drittes fügten sie hinzu: Wagner. "Der Tag danach" nannten die drei ihre Gemeinschaftsproduktion. Gemeint war der "fünfte Tag" nach Wagners vierteiligen "Ring der Nibelungen". In geradezu kongenialer Weise haben sie den Schwebezustand noch einmal verdichtet, indem sie mit wenigen, sehr gezielt plazierten Zutaten noch mehr im Ungefähren ließen, was gerade vorüber ist oder möglicherweise doch im Neubeginn begriffen.

Ähnlich wie einst die Patienten wandelt nun die Besucher in Gruppen oder einzeln die langen Flure entlang, die Wege zwischen den Gebäuden auf und ab. Hier lockt ein Klang, dort eine geöffnete Tür in die völlig verlassenen Trakte, in denen der abgelöste Anstrich als farbige Schnipsel den Boden bedeckt, die Tapeten sich bahnweise von den Wänden abrollen. Kyrillische Schriftzeichen an den Türen erinnern an die letzten Benutzer. Der Zuschauer tritt eine Reise in die Vergangenheit an. Mit Hilfe der Interventionen von Boltanski, Kabakov und Kalman landet er jedoch im Zwischenreich der Kunst, denn die ausgelegten Spuren - ein mit Blumen bedeckter Zimmerboden, der blutrote Schriftzug "Jetzt ist die Stunde" oder grüne skizzenhafte Zeichnungen an den Wänden, die romantische Träumereien russischer Soldaten sein könnten - leiten in eine andere Dimension.

Das russisch-französische Künstlertrio läßt zwar die Räume für sich wirken, zugleich sind sie mit der Musik Wagners aufgeladen. In jedem der vier Gebäude gibt es ein besonderes Szenario für die "Nibelungen", das sich nie auf einen bestimmten Teil bezieht und doch immer gerade für diesen Ort entwickelt zu sein scheint. Mit den weißlichen Dämpfen, die aus dem zentralen Becken des Badehauses quillen, erhebt sich auf wunderbare Weise auch der Gesang Brünhildes. Wotan donnert dem Besucher fast ohrenbetäubend den langen Flur des Haupthauses entgegen, der von Stühlen mit übergezogenen Mänteln verstellt ist. Im zweiten Sanatoriumstrakt probt im einzigen unversehrt gebliebenen Zimmer, das sogar noch über die originalen Holzvertäfelungen verfügt, ein Repetitor den "Lohengrin". Ob die vier Sänger von der letzen Inszenierung noch übriggeblieben oder für die nächste nun üben, bleibt ungewiß. Die ganze Wucht des Dramas aber sammelt sich im Kesselhaus, deren riesige Halle bis auf wenige durchdringende Sonnenflecken in vollkommenes, russiges Dunkel getaucht ist - ein gigantischer Resonanzkörper für Wagners Musik.

Boltanski, Kabakov, Kalman haben sich Wagner von außen genähert. An den ganzen "Ring" trauten sie sich als bildende Künstler nicht heran. Stattdessen arbeiteten sie mit Versatzstücken des großen Werks, holten es von der Opernbühne herunter und vernetzten es mit einer historischen Stätte, die auf den ersten Blick so gar nichts mit Wagner zu tun zu haben scheint. Doch ähnlich wie die Ideale der Gründer der Beelitzer Heilstätten und der Theoretiker des Kommunismus scheiterten auch die Utopien des Komponisten. Die drei Künstler haben diesen verlorenen Visionen ein großes Requiem verfaßt. Die getragene Stimmung wird gebrochen durch das heitere Sommerwetter, die rundherum aufgestellten Holztische und -bänke zum Picknicken.Und wer richtig hinhörte, konnte sogar Stimmen in den Bäumen erlauschen. Aus versteckten Mikrophonen drangen die Erinnerungen von Wagnersängern und -musikern. Das wirkte mitunter komisch, etwa dann, wenn sich einer daran erinnert, wie nach dem Krieg die Amerikaner Haus Wahnfried in Bayreuth "entweihten", indem sie im hauseigenen Konzertsaal Operetten aufführten. Mag sein, daß spätere Benutzer der Beelitzer Heilstätten die zweitägige Installation ähnlich kopfschüttelnd kommentieren: völlig fremd, wie aus einer anderen Welt. Doch gerade das charakterisiert Momente des Übergangs. Glücklich, wer einen solchen am Wochenende draußen vor der Stadt erhaschen konnte.

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