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Kultur: Brutus und seine Brüder

Eine kleine Geschichte des politischen Mordes – und warum nur Demokratie gegen pathologischen Hass wirkt

Von Caroline Fetscher

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Sie halten in solchen Fällen meistens diskret den Mund. Mordenden Machthabern müsste man eine Wahrheitsdroge einflößen, um ihre Erklärung dafür zu hören, weshalb sie einen Zeitgenossen von gedungenen Killern meucheln lassen. Dabei wäre der wahre Text des Machthabers, der ein Attentat vor sich rechtfertigt, in seiner Grundstruktur kaum kompliziert: „Passt mir nicht, der dort. Nicht was der spricht, was der denkt und fragt, noch dazu laut. Dieser Jemand will zu viel wissen, ändern, äußern. Wissen, Ideen, Kritik, Am-leben-Sein dieses Anderen bedrohen mein System. Jetzt fangen auch noch zu viele Leute an, ihm zuzuhören. Beseitigen wir prophylaktisch, um den Schaden abzuwehren oder einzugrenzen, diese Person. Mord, meine ultimative Zensur. Nie wieder ein Wort aus diesem Mund!“ Auch einzelne Attentäter oder Gruppen können auf diese Weise spekulieren und deduzieren.

Alexander Litwinenko waren das skrupellose System, gegen das er mit seinen Nachforschungen und Verlautbarungen antrat, ebenso bekannt wie die Risiken, die sein Verhalten barg. Tausende Kilometer von Russland entfernt, in einer Londoner Sushi-Bar, traf er den, der ihm den tückischen Tod brachte, durch eine unsichtbare Substanz ohne Geruch oder Geschmack. Wie Worte – aber ohne ein einziges Wort. Dennoch steckt in dieser Tat ein ganzer Text, ähnlich dem oben erfundenen Zitat. Litwinenko und auch sein italienischer Kontaktmann wurden, davon geht Scotland Yard aus, das ahnen, glauben, meinen Millionen von Nachrichtenkonsumenten in aller Welt, Opfer eines politischen Anschlags auf ihr Leben.

Vor wenigen Wochen erst, kurz nach den tödlichen Schüssen auf die berühmte Journalistin Anna Politkowskaja in Moskau, hatte der russische Philosoph Michail Ryklin in einem Interview im Tagesspiegel erklärt, wenn selbst eine Politkowskaja nicht mehr geschützt war durch ihren Ruf und Ruhm, dann gebe es für gar keinen Andersmeinenden mehr Sicherheit in Russland. Man machte sich nicht einmal die Mühe, sie zu inhaftieren und in die sibirische Kälte zu schicken. „Weg mit ihr“ hieß die finale Devise in dem Fall. Das „Beseitigen“ Litwinenkos nun enthält, nach Politkowskaja, eine zusätzliche Botschaft: Keiner kann entkommen. Nicht allein zu Hause in Russland wird der politische Gegner aufgespürt und zur Strecke gebracht, sondern auch im Zentrum einer westlichen Großstadt wie London, Hauptstadt eines Staates, der neben Russland zu den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen gehört. Nirgends scheint einer mehr Schutz zu finden, der sich mit diesem Typus von Macht anlegt. Die Botschaft lautet: „Wir finden euch alle, so wie man Trotzki in Mexiko zur Strecke brachte.“

Geringen Trost bietet es einem Kandidaten auf der Todesliste, zu wissen, dass der Eingang in die Ewigkeit ihn einer langen, ehrenvollen Reihe der Opfer politischer Morde zugesellt. Attentate als Mittel der Politik hält die aus Stalins Georgien stammende Historikerin Hélène Carrère d’ Encausse, langjährige Generalsekretärin der Académie Française, für ein nahezu tausend Jahre altes „Russisches Syndrom“ („The Russian syndrome: One thousand years of political murder.“ New York, 1992). Ob es nun vor allem eine spezifisch russische, mörderische Tradition solcher Taten gibt – Rasputin, die Zarenfamilie, Trotzki – von der sich nur Gorbatschows Perestroika vorübergehend und untypisch fortbewegt hatte, oder ob Carrère d’Encausse durch ihr besonderes Augenmerk zur Zuspitzung neigt, auf alle Fälle steht darüber hinaus fest: Den offenen oder versteckten politischen Mord kennt so gut wie jedes politische System seit der Antike.

Zweierlei Typen von Taten tragen sich seit Sokrates und Julius Cäsar in seine Listen ein: Dissidentenmorde und Tyrannenmorde. (Im Grunde zählt auch der Foltertod des „Dissidenten“ Jesus Christus, der die römischen Kolonialherren mit seiner neuen, religiösen Lehre provozierte, zu dieser Kategorie.) Oft allerdings erreichen im Fall der Dissidentenmorde die Attentäter, seien sie versprengte Einzelne oder von Geheimdiensten gedungen, gerade das Gegenteil des Gewünschten, dann wenn die Tat dem Opfer das Signum des Märtyrers und Heroen verleiht. Bedrohlich ist in den Augen der starren Macht eine innovative, charismatische, rhetorisch oder schriftstellerisch begabte Person, die an Episteme und Institutionen rührt, welche die etablierte Elite zu ihrem Erhalt braucht – doch dass diese Gegenströmungen überhaupt auftauchen, zeugt bereits davon, dass ein System Risse bekommt.

Giordano Bruno, der 1600 in Rom auf dem Scheiterhaufen endete, hatte das geozentrische Weltbild in Frage gestellt, und damit die Egozentrik des Vatikans und seines Systems beleidigt. Angeblich band man ihm die Zunge fest, ehe man ihn auf dem Campo di Fiori in die Flammen stellte. Er sollte keine Rede mehr halten können. Nach dem Spruch seiner Richter soll Bruno ausgerufen haben: „Mit mehr Angst verkündet Ihr das Urteil, als ich es entgegennehme.“ Allmählich begann dann die Erde in den Köpfen um die Sonne zu kreisen. Bruno behielt Recht.

Mahatma Gandhi, ermordet 1948, ignorierte provokativ das indische Kastensystem, Martin Luther King, 1968 getötet, forderte die Anhänger der Rassentrennung Amerikas heraus und musste dafür, so wie Abraham Lincoln 1865, sein Leben lassen. Ihre Botschaften aber verbreiteten sich dennoch. Denn selten oder nie gelingt durch den politischen Mord jene „ultimative Zensur“ von der die weltliche oder religiöse Macht in ihren Omnipotenzfantasien so bang wie skrupellos träumt. Wo die Ideen oder das Wissen anderer die Architektur der Macht attackiert, sie wie ein Erdbeben zu erschüttern droht, da bebt der Boden ohnehin bereits, der Einsturz des falschen Baus ist nur eine Frage der Zeit.

Zoran Djindjic wollte die Demokratie nach Serbien bringen – seine Mörder aus dem vorigen, mafiösen System haben Zeit gewonnen. Demokratie und Rechtsstaat sind dennoch unterwegs auch in Djindjics Land – und sind die beste Versicherung gegen den „Erfolg“ politischer Morde. Die Mörder von Olof Palme, Anna Lindh, John F. Kennedy, Indira Gandhi und Rajiv Gandhi oder Jitzhak Rabin haben das demokratische System in keinem der betroffenen Länder im Kern beschädigen können. Der Islamist, der den Filmemacher Theo van Gogh in Amsterdam erstach, um zu töten, was in seinen Augen die Häresie der Freiheit war, hat den Mann und seine Arbeit sogar erst weltweit bekannt gemacht.

Franklin Ford, der sich in Harvard anderthalb Jahrzehnte lang mit diesem Aspekt der Geschichte befasste („Der politische Mord. Von der Antike bis zur Gegenwart“, Reinbek, 1992), kam zu dem Schluss, die Folgen solcher Taten seien schlicht „unberechenbar“. Ob sie Chaos oder Krieg bringen – wie derzeit im Libanon nach den Morden an Hariri und Gemayel befürchtet wird – oder die Entschlossenheit der Opposition verstärken, vermögen die Täter, unter anderem aufgrund ihrer psychischen Konstellation, kaum vorauszusehen. Raffiniert mögen sie sein, klug oder weise sind sie nie. Darin, dass fanatische Attentäter oder ihre Auftraggeber ein Individuum mit einer Struktur gleichsetzen, eine Person mit deren Ideen verwechseln, begehen sie ihren größten Fehler, zeigt sich ihre fatalste, primitive Schwäche.

In ihrem Egozentrismus sehen sie keine Option als die, den Gegner zu personalisieren – sonst wären sie in der Lage, sich als Teil einer Struktur zu erkennen. Zur Pathologie solcher Potentaten, großer wie kleiner, erklärt Hans-Jürgen Wirth in seiner Studie „Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik“ (Gießen, 2002), gehören Paranoia, Humorlosigkeit und Kontrollsucht. Ihr Mangel an Kreativität, ihr Hass auf „das Andere“, das sie am Dissidenten verfolgen, lässt sie die Gewalt rationalisieren – die Parteiräson, das Wohl der Nation, die Kirche, Allah und so weiter „billigt meine Tat“ – und legt ihr Gewissen lahm. Je totalitärer diese Vorstellung verankert ist, desto mehr fürchten sie die Hohe See der Autonomie, der anderen Gedanken, wie das Entlarven ihrer Unmoral. Sie fürchten ein Über-Ich, das in Gestalt etwa von Menschenrechtlern auftritt. Aufgrund ihrer Erstarrung implodieren oder explodieren solche Systeme. Allerdings: früher oder später.

Und darauf kann es durchaus ankommen. Paradoxerweise rufen notorische Dissidentenmörder nach dem anderen Typus des politischen Bluttäters, dem wohl einzigen Mörder, dem sogar demokratische Zeitgenossen im Stillen Zustimmung zollen, man denke an Mussolinis Ende oder das des Diktators Ceausescu. Das Geschick des Tyrannenmörders, der mit dem Dolch im Gewande zum Despoten schleicht, ist selten glücklich. Seine Skrupel sind größer. Sein Gewissen ist stärker. Seine Mittel sind geringer. Kein Hitler, Stalin oder Pol Pot fiel durch solche Dolche. Diktatoren sind zäh. Dass Saddam Hussein überhaupt vor Gericht steht, wenn auch in einem verwüsteten Land, ist immerhin ein Erfolg der Geschichte.

Anna Politkowskaja hat sich einmal in einem Artikel gefragt: „Warum verabscheue ich Putin so sehr?“ Und gab sich selbst die Antwort: „Wegen seiner Geheimdienst-Mentalität, seiner kalten Sachlichkeit, die an Schwerverbrechen heranreicht, wegen seines Zynismus, seiner engstirnigen, kleingeistigen Jagd nach Macht, und vor allem, weil er mit Tücke oder Gleichgültigkeit ein Russland regiert, das in seine sowjetische Vergangenheit zurückgleitet.“

Ihrer Sprache merkt man an: Sie will diesen destruktiven Menschen am liebsten nie im Leben berühren.

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