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Buch der Woche: Spur der Tiere

Kein Anfang und kein Ende: Ralf Rothmanns höchst gelungene Erzählungen „Shakespeares Hühner“.

Da sitzt der alte Mann in seinem Sessel; ein trauriger Schlauch führt zu dem Urinbeutel in der Tasche seines nicht weniger traurigen Bademantels. Über seinen Vater spricht er und sagt: „Das empfindsame Potential von Arbeitern ist allemal größer als das von sogenannten Kulturmenschen. Die wissen was vom Leben. Die haben die tiefere Sehnsucht.“ Es ist höchst selten, dass so etwas bei Ralf Rothmann einmal ausgesprochen wird. Und doch scheint es, als sei das eine explizite poetologische Selbstauskunft, die Rothmann da einer seiner Figuren in den Mund gelegt hat, noch dazu einer eher zwielichtigen. Doch es stimmt: Von Beginn an waren es bei Rothmann eher die kleinen Leute, die ihn interessiert haben, deren literarisches Potenzial er voll ausgeschöpft hat. Die Maurer und Grubenmänner, die Schlachthaus- und Sektionsgehilfen, die Handwerker und Puffgänger. So ist es auch in seinem Erzählungsband mit dem rätselhaften Titel „Shakespeares Hühner“, der sich aus einer einfachen Verwechslung einer Schülerin erklärt. Die Titelgeschichte ist im Übrigen die einzig misslungene in diesem ansonsten wieder einmal bemerkenswert starken Buch.

Seine Figuren sind von einem Pathos getragen – sei es das Pathos des Scheiterns oder das der Sehnsucht. Man spürt es nur allzu deutlich in diesen Geschichten; Rothmann setzt uns als Leser diesem Pathos aus, ohne ihm seine Texte zu opfern. Das ist eine Technik, die er bis zur Perfektion vorangetrieben hat. Darum vibrieren Rothmanns Erzählungen unter der scheinbar so realistischen Oberfläche permanent, sie pulsieren heftig, weil in ihnen etwas steckt, was spürbar wird, aber unausgesprochen bleibt. Sie sind durchlässig, offen für Gefühle, doch werden diese verlagert in bildhafte Szenen oder, auch das ist nicht neu und doch immer wieder überraschend, auf die Tierwelt, die bei Rothmann einen wunderbaren eigenständigen Parallelkosmos bewohnen darf.

Das hat nichts Schematisches an sich, doch das Bauprinzip lässt sich anhand der letzten, recht kurzen Erzählung „Frischer Schnee“ exakt nachvollziehen: Zwei junge Männer, Fliesenleger von Beruf, wie man bald erfährt, baggern in einer Kneipe zwei Frauen an. Man betrinkt sich und beschließt, den Rest der Nacht gemeinsam zu verbringen. Die Mutter des Ich-Erzählers verwaltet ein Haus mit Luxusferienwohnungen direkt am Meer, das im Winter schwach ausgelastet ist. Dorthin fahren sie. Während Lars, der besser aussehende, wortgewandtere der beiden Freunde, mit der besser aussehenden Frau im Schlafzimmer verschwindet, bleibt der Ich-Erzähler mit der anderen zurück.

Sie ist älter, als er dachte, beinahe schon ein wenig verbraucht. Und keineswegs auf Sex aus. Wie sich herausstellt, ist sie kürzlich aus dem Krankenhaus entlassen worden. Beide liegen auf der Couch; sie schläft ein; er hat seine Hand auf ihrer Brust. Eine zärtliche, geduldete Geste. Der Erzähler blickt nach draußen, denkt darüber nach, dass er erneut Schnee räumen muss, denkt an die Spuren der Tiere, die er damit beseitigt. Oder eben auch nicht: „Doch irgendwann taut es eben, und ich weiß noch, wie es mich als Kind überrascht hat, dass sie alle wieder zutage kommen, die Spuren, Schicht für Schicht, als hätte der Schnee ein Gedächtnis. Sogar in der letzten glasigen, kurz bevor das fahle Gras erscheint oder die eine oder andere Krokusspitze, erkennt man die Schritte von Hirschen, Vögeln oder Hasen, die vor Monaten dort gegangen waren und längst woanders leben. Oder vielleicht sogar tot sind."

Der Schnee, das pochende Herz unter der flachen Hand, die Spuren der Tiere, der Tod, das, was bleibt – alles in einem Bild. Das ist so ein Rothmann-Moment, in dem die zuvor exakt herausgearbeiteten Motive kurz in eins fließen, bevor er wieder vergeht. Sie sind selten heiter, diese Momente, manchmal melancholisch, zumeist aber gesättigt von einer Trauer und einem Wissen um die Vergänglichkeit.

Rothmanns Erzählungen haben keinen Anfang und kein Ende; er geht mitten hinein und legt die Schichten frei. Die Figuren haben eine Vergangenheit, möglicherweise eine Zukunft; Rothmanns Erzählungen verfügen nur über die Gegenwart, aus der sich beides ableitet. Die Parallelstränge werden an-, aber nicht auserzählt. Diese so leicht zu lesenden Texte sind kunstvoll komplexe Gebilde. In einem davon werden Themen wie Homosexualität, beruflicher Abstieg und DDR-Vergangenheit miteinander verquickt; in einem anderen eine Sexual- mit einer Todeserfahrung. Anderen Autoren würde das zum Klischee geraten. Ralf Rothmann nicht.

Ralf Rothmann: Shakespeares Hühner. Erzählungen.

Suhrkamp Verlag,

Berlin 2012.

212 Seiten, 19,95 €.

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