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Buch-Kritik: Wal und Wahn

Ein fantastischer Schelmenroman aus Island: Sjón bewundert „Das Gleißen der Nacht“

Lange hat kein Autor mehr so listig mit Mythos und Historie gespielt wie der Isländer Sigurjón B. Sigurdsson alias Sjón. Der Held seines Romans „Das Gleißen der Nacht“, Jónas Palmasson, den wir im Jahr 1635 kennenlernen, ist ein Schlitzohr und Tausendsassa, dabei gelehrt bis unter die strubbeligen Haarspitzen. Alles Wissen hat er sich selbst angeeignet, und schon als Knabe seine beiden Leidenschaften entdeckt: die Suche nach dem Stein der Weisen und die Erforschung der weiblichen Anatomie. Seine Forschungsmethoden sind eigenwillig, aber bei den Damen höchst beliebt: Er ertastet unter ihren Röcken Krankheitsherde und Absonderlichkeiten und empfiehlt, nach den Rezepten des ehrenwerten Doktors Paracelsus, heilende Kräutertränklein und Salben. Zur Belohnung fordert er einen Rabenschädel, den er weichkocht in der Hoffnung, in seinem Inneren den Stein der Weisen zu finden.

Dieser Jónas ist zu neugierig, zu klug und respektlos für die düsteren Zeiten der Reformation. So gerät er in Streit mit der korrupten, machtgierigen Obrigkeit. Seine Schriften werden verbrannt und er selbst auf eine Felseninsel vor der isländischen Küste verbannt. Der Roman beginnt, als Jónas sich in der Verbannung gerade wohnlich eingerichtet hat und endet 1639, kurz vor deren Aufhebung, als ihm in einer letzten, himmelsstürmenden Vision alles, was er in Büchern gelesen hat, in bizarren Verkörperungen leibhaftig am Strand entgegenkommt.

Von Jahr zu Jahr werden seine Fantasien heftiger, seine Wut größer, seine Einsichten grundlegender. Zu Beginn ist er noch gelassen und begnügt sich mit dem Strandläufer als Zuhörer. Und während der dünnbeinige Vogel ihn mustert, schwärmt Jónas von seiner mathematisch hochbegabten Frau, die ihm die Sonnenfinsternis erklärte, amüsiert sich über den tumben Adam, der mit seinem Schatten schlief und so die Unterwelt befruchtete und schimpft auf den religiösen Terror, der den einfachen Leuten ihre Heiligen und Zaubersprüche verbietet.

Sein selbstmitleidiger, empfindsamer und spöttischer Monolog bildet den eindringlichen Grundton des Romans und zeigt einen redlichen Gelehrten, der sich erschütternd ungeschützt seiner Zeit aussetzt. Wie Simplicius Simplicissimus leidet er an seinem verwüsteten und verrohten Land, in dem nicht nur Bücher, sondern auch Menschen verbrannt werden und die Reichen auch im klirrenden Winter kein Mitleid mit den Armen haben. Doch während Jonas über seine bittere Einsamkeit jammert, schlägt seine Fantasie Purzelbäume. Nichts inspiriert ihn mehr, als über Island nachzudenken, wo der Kosmos seine innersten Gesetze verrät: eine gelobte Insel, die im Meer „sitzt wie ein schimmernder Goldknopf in einem prall gefüllten Daunenkissen, in das selbst das Himmelskind sein Köpfchen betten könnte. Und durch all dies webt sich ein grell leuchtender Silberfaden, spannt sich geschmeidig von der Erde durchs Meer und zum Himmel und von dort zum glühenden Sonnenball, mit gewaltiger Nadel genäht, die mühelos die vier Elemente durchsticht.“

Sjóns Roman beruht auf der Lebensgeschichte und den Schriften des isländischen Forschers Jón Gudmundsson Laerdi, eines Paracelsus-Schülers, der im 17. Jahrhundert wegen seiner angeblichen Hexenkünste verbannt wurde. Er beschrieb nicht nur detailliert den Niedergang seines Landes, sondern, als einer der Ersten, auch seinen eigenen. Jede Masche des Netzes aus magischen Kräften und mythischen Zeichen, in dem Jónas sich bewegt, erscheint im Roman als ein sinnlich-groteskes Bild. Darin stecken auch der Humor und die Zartheit dieser Geschichte, die Jónas zur modernen, psychologisch gewitzten Figur werden lassen. Mit ansteckender Begeisterung lässt er sich in den wild mäandernden Strom seiner Assoziationen fallen und erzählt triumphierend von seinen Abenteuern – am schönsten von dem Kampf mit einem strohdummen Gespenst, einem Statthalter aller Bürokraten und Dogmatiker.

Sjón, der sich selbst als „alten Anhänger der Avantgarde mit Wurzeln im Surrealismus“ beschreibt, wurde durch André Breton auf Paracelsus aufmerksam und in Folge davon auf dessen Lehrling Jón Gudmundsson. Kein Wunder, dass die Sätze in seinem Roman hüpfen und tanzen und nach allen Richtungen hin ausbrechen. Die Naturanbetung des Novalis nimmt er ganz wörtlich und lässt seinen Helden als hypermodernen Lehrling zu Sais durch seinen eigenen Körper wandern wie durch ein verwirrend unordentliches Haus – ein größerer Gegensatz zu seinem strengen Roman „Schattenfuchs“ (2005) ist kaum denkbar.

Kein historischer Roman also, sondern eine lustvoll verfremdete Parabel auf den Mahlstrom eines gesellschaftlichen Zusammenbruchs, der zu allen Zeiten gleich funktioniert und zuerst das Allerprivateste der Menschen vernichtet. Dem melancholischen Jónas nehmen die Mächtigen Familie und Freiheit, dabei sehnt er sich doch nur danach, sein inneres und äußeres Chaos zu ordnen. Sjón, zurzeit Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD, hat neben Theaterstücken und Comics elf Lyrikbände und sieben Romane veröffentlicht und Liedtexte für Björk geschrieben. Er ist eine der eigenwilligsten und ernsthaftesten Stimmen Islands und macht es weder sich noch seinem Helden leicht, der erst nach einer seelischen Rosskur im Bauch des Wals versteht, wer er wirklich ist.

Sjón: Das Gleißen der Nacht. Roman. Aus dem Isländischen von Betty Wahl. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011. 285 S., 18,95 €.

Nicole Henneberg

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