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Ingo Schulze

© Foto. ddp

Buchkritik: Das Paradies liegt immer nebenan

Ingo Schulze erzählt in "Adam und Evelyn“ eine Beziehungsgeschichte vom Wendesommer 1989. Dabei seziert er die Zwischenwelten mit beachtlicher Leichtigkeit.

Es braucht etwas Zeit und Ausdauer, um die Feinheiten dieses neuen Romans von Ingo Schulze in ihrer ganzen Feinheit zu erkennen. "Spione“ heißt das Kapitel, es ist das 45. von 55 Kapiteln, und wie alle anderen Kapitel in diesem Buch geht es nur über ein paar Seiten und besteht überwiegend aus einem Dialog. Aber dieser Dialog hat es in sich.

Die 21-jährige DDR-Bürgerin Evelyn, eine der beiden Roman-Hauptfiguren, sitzt nach ihrer geglückt-unproblematischen Ausreise über Ungarn einem westdeutschen Beamten gegenüber, der sie nach ihrer Herkunft, ihren Kontakten und ihren Plänen ausfragt, immer unter der Prämisse, es bei Evelyn und ihrem Freund Adam mit Stasispitzeln zu tun zu haben. Evelyn erzählt dem Mann, wie es dazu kam, dass sie und Adam ausgereist sind, was ihnen in Ungarn und in der DDR-Botschaft in Budapest so widerfahren ist, warum Adam nicht mitwollte, warum er nicht wollte, dass sie sich mit Ausreisegedanken beschäftigt, warum er dann doch mitkam, und so weiter.

Kunstfertige Schmuklosigkeit

Auf wenigen Seiten und in dieser ja auch grotesken Verhörszene entfaltet Schulze einerseits wie nebenbei die ganze Tragik, die ganze Schwere, die es für DDR-Bürger bedeutete, im Sommer 1989 über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik zu gelangen. Zum anderen erhellt er aber auch das oft nur Ungefähre des Ausreise-Entschlusses, das Spontane, Planlose, die vorangegangenen privaten Verwicklungen, die Hin- und-her-Überlegerei. Dass nach dem, was zwischen Adam und Evelyn passiert ist, auf Seiten des westdeutschen Beamtens viel Unverständnis herrscht und dass Evelyn den Spionage-Verdacht eher erhärtet, als ihn aus der Welt zu schaffen, erschließt sich hier leicht.

Das Kapitel "Spione“ liest sich gleichzeitig wie eine schön leichthändige Zusammenfassung all dessen, was Ingo Schulze bis zu diesem Zeitpunkt in "Adam und Evelyn“ erzählt, und zwar so leichthändig, dass man sich immer wieder fragt, was die Leichthändigkeit eigentlich soll, ob sie hier wirklich angebracht ist. Ingo Schulze aber ist ja ein Meister der ausgefeilten, kunstfertigen Schmucklosigkeit, das hat er zuletzt in seinem dickleibigen Wende- und Briefroman "Neue Leben“ und noch schöner und plastischer in seiner Erzählsammlung "Handy“ bewiesen.

Reise ohne doppelten Boden

Mit "Adam und Evelyn“, der Geschichte eines Liebespärchens aus der Zwischenzeit, als der Sozialismus schwer ins Rutschen geriet, aber noch keiner genau wusste, wann das Ende der Rutsche erreicht sein würde, übertrifft er sich nun. Schulze treibt in diesem Roman die Handlung allein durch die schnelle Szenenabfolge und viele Ortswechsel voran, vor allem aber lässt er seine Figuren reden, reden und nochmal reden.

Ihre Charaktere entwickeln sich nahezu ausschließlich aus den Dialogen – so sie sich überhaupt entwickeln, bei den Nebenfiguren ist das nicht immer der Fall. Gelegenheit zur Introspektion, zum freien Fließen von Gedanken gibt Schulze ihnen kaum. Das hat den Vorteil, dass man schnell in dieses Buch hineinkommt, dass es einen schnell mitnimmt.

Dass es einen aber mit seinen oft scheinbar nichtssagenden, um Alltägliches sich drehenden, effektfreien Zwiegesprächen (in den gezielt ohne Cliffhanger auskommenden Kapiteln) auch immer mal wieder hinausträgt. Zudem ahnt man, wohin Adams und Evelyns Reise letztendlich geht – so sehr der eine mehr gezogen wird, als dass er zieht, und die andere mehr zögert und zweifelt, als dass sie das von ihr angestrebte neue Leben mit festen Vorsätzen anzugehen bereit ist.

In den Urlaub mit Schildkröte Elfi

Er ist der sozialistische Gemütsmensch, der dem Regime den Rücken gekehrt hat, nicht zu den Wahlen geht, sich mit seinen 33 Jahren eingerichtet hat und zufrieden ist: in seinem ererbten Häuschen in einem DDR-Provinznest, mit seinem Beruf als Damenschneider, mit den Liebeleien, die für ihn bei den Anproben anfallen.

Und sie ist die junge Kellnerin, der der Sozialismus das Studium der Kunstgeschichte verwehrt hat und die ihre Unzufriedenheit kaum noch zu zügeln vermag. Als sie Adam eines Tages in flagranti ertappt – und damit setzt Schulzes Roman ein –, macht sie sich allein auf den Weg. In den Urlaub an den Plattensee zunächst, den Adam in seiner Genügsamkeit immer wieder hinauszögert. Weil Adam aber seine Evelyn über alles liebt, folgt er ihr doch, mit Schmuck, Papieren und der Schildkröte Elfi in seinem geliebten Auto, "Heinrich“ genannt. Und der von allerlei Komplikationen begleitete Sommerreigen vor dem Hintergrund der massenhaften Absetzbewegung von DDR-Bürgern nach Ungarn nimmt seinen Fortgang.

Im Sog des hier und jetzt

Ein Michael aus Hamburg stößt dazu, eine Katja, die ebenfalls flüchten will und schon einen missglückten Fluchtversuch hinter sich hat, eine Moni, die wieder zurückkehrt, eine ungarische Familie, bei der Schulzes Helden zu Besuch sind und die aus dem Bilderbuch des ungarischen Kleinbürgertums zu stammen scheint.

Dass Ingo Schulze sie alle einfach vor sich hin reden und pusseln und agieren lassen kann, verdankt sich selbstverständlich dem Überbau, den er seinem Buch allein durch den Titel und den Namen für seine Hauptfiguren gegeben hat: Das Paradies von Adam und Evelyn, es ist immer anderswo oder doch gleich nebenan. Es ist verloren oder sie befinden sich schon mittendrin.

Wobei gerade bei Adam eher von Vertreibung als von Sündenfall gesprochen werden muss. Denn sein Paradies scheint für ihn die DDR zu sein. Auch der Urlaub in Ungarn trägt für ihn noch paradiesische Züge, und nur Evelyn zuliebe lässt er sich in den gelobten Westen locken, in das vermeintliche Paradies.

Die Gegenwart war gestern

Dass Adam gleich in der ersten Nacht im Westen in einer Pension eine Bibel findet und in der Schöpfungsgeschichte liest, ist da gar nicht notwendig – wenngleich Schulze in dieser Szene mit schönen Essensdetails für Abwechslung sorgt. Das ohnehin mit Proviant gut versorgte Paar wird von den Gastwirten zusätzlich derart eingedeckt, dass sie sich wirklich wie im Schlaraffenland vorkommen.

Noch schöner ist, wie Schulze es gelingt, das Gewicht seiner Hauptfiguren zu verschieben, ihre Konturen parallel zum Fortgang der Geschichte entweder nachzuziehen oder sie langsam verschwimmen zu lassen. Während Adam zu Beginn ein kräftiger, eigenwilliger und nach und nach auserzählter Charakter ist, bleibt Evelyn eher blass. Dieses Verhältnis kehrt sich um, spätestens mit dem Grenzübergang. Evelyn bekommt zunehmend Profil, und Adam verschwindet hinter den Schwierigkeiten, die er im Westen hat, und wird nur noch mit den Augen Evelyns betrachtet.

Am Schluss steht ein Fanal. Adam verbrennt die Fotografien, die er im ersten Kapitel in seiner Dunkelkammer entwickelte, die Fotos von den Frauen, die er eingekleidet hatte. Die Gegenwart war gestern. Und die Zukunft hat begonnen am Ende dieses Romans, in dem so viel mehr steckt, als seine leichte Form zunächst vermuten lässt.

Ingo Schulze: Adam und Evelyn. Roman. Berlin Verlag, Berlin 2008, 314 S., 18 €

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