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Lutz Seiler.

© dpa

Buchpreis-Favorit Lutz Seiler im Interview: „Hiddensee war eine Art Jenseitserfahrung“

Mit seinem Roman "Kruso" ist Lutz Seiler einer der Mitfavoriten auf den Deutschen Buchpreis 2014. Im Gespräch erzählt er, wie eine Ostseeinsel ins Zentrum seines Romans geriet und was das Schreiben von Prosa für einen Lyriker besonders macht.

Herr Seiler, können Sie sich noch unerkannt auf Hiddensee bewegen? Mit ihrem Roman „Kruso“ haben Sie der Insel ein literarisches Denkmal gesetzt.
Ja, „Kruso“ ist auf Hiddensee zu Hause und auch für mich war die Insel bis dato eine Art Wahlheimat, was hoffentlich so bleiben kann, unerkannter Weise. Bis jetzt war das auch kein Problem. Nur im „Godewind“, wo ich die letzten Jahre öfter gewohnt habe, ist das inzwischen etwas anders. Aber das hängt vor allem mit dem Besitzer zusammen, Andreas Meinhof, den ich noch aus Berliner Zeiten kenne, wir haben zusammen gekellnert, damals in der „Assel“, die ersten Nachwendejahre in der Oranienburger Straße.

Hatten Sie da den Stoff von „Kruso“ schon lange im Kopf? Dass Hiddensee zum Beispiel der für den Roman so überaus wichtige Schauplatz werden würde?
Nein, an dem Roman, den ich ursprünglich schreiben wollte, bin ich gescheitert. Das Buch sollte kurz nach der Wende spielen, in den Jahren 1990 bis 1993 in Berlin. Hiddensee sollte dort nur kurz vorkommen, in einem Rückblickskapitel.

Und wie geriet die Insel dann ins Zentrum?
Meine Frau fragte irgendwann, ob ich nicht wenigstens etwas mit diesem Hiddensee-Stoff machen wolle, der mir so gut gefallen hätte, zehn Seiten vielleicht. Ich begann, und hatte sofort zwei, drei Bilder im Kopf, denen ich absolut vertrauen konnte. Und dann ging nacheinander ein Türchen nach dem anderen auf, ich sah Figuren, eine Dramaturgie und konnte beginnen, Kapitel zu entwerfen.

Was verbindet Sie selbst mit Hiddensee?
1988 war ich das erste Mal für längere Zeit auf der Insel. Ich habe im "Enddorn" gewohnt, einer Kneipe in Grieben. Ein Freund von mir hat dort gekellnert. Ich habe dort auch meine erste kleinere Saisonarbeit gemacht – Brot holen von Bäcker Kasten, mit dem Blechkarren am Fahrrad, in dem die Brote lagen. Von da an war klar, dass ich in jedem Fall wiederkommen wollte.

War es nicht schwer, überhaupt nach Hiddensee zu kommen? Ging das nicht nur als Tagestourist?
Richtig. Es gab dort kaum Übernachtungsmöglichkeiten, die Quartiere waren von offizieller Seite immer ausgebucht, durch die Betriebe, den FDGB, auch die inoffiziellen Unterkünfte, die Hühnerställe und Dachkammern, waren in der Regel auf Jahre im Voraus belegt. Wer einfach blieb, am Strand etwa, wurde nachts von den Grenzstreifen aufgespürt. Die machten sich nach Einbruch der Dämmerung auf die Suche und leuchteten in jeden Strandkorb mit ihren Taschenlampen. Nur als Saisonarbeiter konnte man länger bleiben. Im Sommer 1989 bin ich wiedergekommen und losgezogen, um Arbeit zu finden. Auch diese Arbeitssuche ist in den Roman eingeflossen

Haben Sie auch, wie eine Ihrer beiden Hauptfiguren, als Abwäscher gearbeitet?
Ja, wir sind irgendwann im "Klausner" gelandet, weil man uns erzählt hatte, das dort zwei Stellen im Abwasch frei geworden seien. Unsere Vorgänger waren der besseren Bezahlung wegen ins "Wieseneck" abgewandert. Die ersten Tage habe ich dann nur Zwiebeln geschält, tagelang Zwiebelschälen, der helle Wahnsinn!

Der Klausner ist ein realer Ort, den es heute noch gibt. Wie nah sind Ihre Figuren an der Realität? Können sich in dem Roman Leute wieder erkennen?
Es könnte schon vorkommen, dass sich der eine oder andere wiedererkennt. Einer der Kellner, der das Vorbild für Chris im Roman war, hat später das Café Westphal in Prenzlauer Berg eröffnet, ein anderer, jener Rimbaud, der philosophierende Chefkellner des "Klausners" in "Kruso", hat nach der Wende immer in genau diesem Café am Kollwitzplatz gesessen. Man könnte da fast von einer Art Wanderdüne sprechen: Viele der früheren Hiddensee-Leute haben später im Prenzlauer Berg oder in Mitte eigene Kneipen betrieben, in den Nachwendejahren, der Goldgräberzeit. Auch den „Seeblick“ in der Rykestraße zum Beispiel, den es heute noch gibt, haben ehemalige Hiddensee-Leute begründet.

"Das Meer war wichtig."

In einem Interview haben Sie gesagt, dass Kruso Züge des im Jahr 2000 verstorbenen Feeling-B-Musikers und DDR-Underground-Helden Aljoscha Rompe aufweist?
Kruso ist nicht mit Rompe identisch, aber er hat ein paar Facetten, die an Rompe erinnern. Aljoscha Rompe hat auf der Insel gelebt, auch im „Klausner“ gekellnert, und es hat diese Konzerte am Strand gegeben, wie sie im Roman beschrieben sind, mit dem Schlagzeug, das im Sand eingegraben war und dem Sternrekorder als Gitarren-Verstärker. Und klar, Rompe hatte wie Kruso diese Stiefeltern auf der Insel, und sein Vater, Robert Rompe, war ein bekannter Physiker, vielleicht der angesehendste im ganzen Osten, ZK-Mitglied und Erfinder der Energiesparlampe, mehr geht ja kaum.
Was hat Hiddensee vor der Wende zu so einem Sehnsuchtsort werden lassen? In Ihrem Roman spiegelt sich das schön wieder.
Das Meer war wichtig, die Inselsituation, eine Art Jenseitserfahrung. Im Grunde war es die einzige wirkliche Insel damals. Und dann gab es dort diese phantastische Szene der Saisonkräfte, der Aussteiger und Ausgestoßenen, ein ganz eigenes Mikromilieu mit einem sehr speziellen, sehr attraktiven Gemeinschaftsgefühl.

Was in Ihrem Roman gut zum Ausdruck kommt, da heißt es einmal: „Wer hier ist, hatte das Land verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten." Ihre Helden Ed und Kruso, eine Art Guru der Saisonkräfte, sind auf ihrer eigenen Freiheitssuche, da geht es mehr um eine innere Freiheit. Beide bleiben auch, als sich im Oktober und November 1989 alle auf den Weg nach Westen machen?
Der Klausner bröckelt, die verschworene Gemeinschaft seiner Besatzung schmilzt nach und nach ab unter den Nachrichten von Ungarnfluchten und Botschaftsbesetzungen. Das ist die Dramaturgie. Von Anfang an wollte ich am Ende Ed und Kruso allein auf dieser Insel haben, darauf läuft alles hinaus. Diese schwierige, zärtliche Männerfreundschaft steht im Zentrum, eine Art Beste-Freunde-Freundschaft, wie man sie vielleicht einmal hatte in seiner frühen Jugend, voller Wahrheit und Intimität.

Wobei man manchmal das Gefühl hat, Sie tragen sehr dick auf, das ist oft pathetisch, fast kunstreligiös. Ed und Kruso sind beide nicht nur Saisonkräfte, sondern auch Dichter, die sich gegenseitig Gedichte vorlesen.
Der Roman verwendet eine personale Erzählperspektive, das heißt, einen objektivierenden Erzähler, der von irgendwo draußen distanziert berichtet, was geschieht, kann es nicht geben. Alles, was der Erzähler in „Kruso“ uns mitteilt, ist affiziert von der Jugendlichkeit seiner beiden Helden, von dem emotionalen Überschuss, meinetwegen Pathos, der für dieses Alter typisch ist. Anders würde dieses Buch nicht funktionieren. Wie ich das als Autor sehe, wäre eine andere Frage. Woran ich mich erinnere ist, dass man mit Anfang 20 brennen konnte für die Literatur - ein Gedicht konnte für das Kostbarste auf der Welt gehalten werden, das ist der Glutkern, der auch später noch wichtig ist, wenn man distanzierter wird, müde, ironisch vielleicht. Und Ed sehnt sich nach einem eigenen Ton. Den findet er bei Kruso, der ihn wiederum im Verlauf des Romans verliert, eine Art gegenläufige Dramaturgie. Kruso ist Robinson, Ed sein Freitag, und beide haben ihren liebsten Menschen verloren, diese Parallelität im Unglück ist es, die sie verbindet, obwohl sie nie darüber sprechen, es ist diese gemeinsame Fremdheit, die sie verbindet. Und genau aus diesem Grund, genau dafür gehen die Gedichte wie Kassiber hin und her, das ist kein Spaß und keine Religion. Am Ende ist der Roman ja auch so etwas wie ein Porträt des Schriftstellers als junger Mann.

Spiegeln Sie sich auch selbst in der Figur des Eds?
(lacht). Nein, das ginge zu weit, ich wollte schon auf die Geschichte mit dem eigenen Ton hinaus. Ed ist da auf der Suche, er flieht auch deshalb auf die Insel. Diese Robinsonade, diese exotische Szenerie, diese Männerfreundschaft, das alles stand für mich im Mittelpunkt.

Wie war das für Sie beim Schreiben, gerade im Vergleich zum Schreiben von Gedichten? Man merkt dem Roman zum Teil an, dass er aus der Feder eines Lyrikers stammt?
Der Roman folgt ganz eigenen Gesetzen und das Schreiben von Prosa ist etwas völlig Anderes. Man schaut anders in die Welt, hat andere Wahrnehmungszustände, ist in einem anderen Leben drin. Man muss immer präsent, immer auf der Baustelle sein, und das über eine lange Zeit. Für die Rohfassung habe ich ein Jahr gebraucht, die Überarbeitungen haben dann noch einmal fast zwei Jahre in Anspruch genommen. Davon abgesehen ist "Kruso" klassisch erzählt. Kann schon sein, dass man als Lyriker mehr Aufmerksamkeit darauf legt, wie ein Bild in Szene gesetzt wird und dass man gar nicht anders kann, als auf Klang und Rhythmus zu achten. Aber jede gute Prosa macht das.

"Über den Buchpreis reden wir jetzt nicht."

Auffallend ist der Wechsel zwischen einem durchaus stringenten, durchaus realistischen Erzählen und dann wieder leicht überhöhtem, leicht surrealen, leicht dunkel-mystischen Passagen.
Das ist der Vorteil der personalen Erzählperspektive - man kann ganz nah bei seinen Hauptfiguren und ihren Emotionen sein und dann wieder zurückzoomen, wie mit einer Kamera. Ich war ziemlich froh, auf Viola gekommen zu sein, dieses Röhrenradio, dass da in der Küche des "Klausners" steht und die Zeitgeschichte unentwegt hineinspricht in den Raum des Geschehens. So brauchte niemand die historischen Ereignisse einführen oder kommentieren - einzig an der Reaktion der Figuren, dem Zugrundegehen der Arche "Klausner", ist ihre Bedeutung ablesbar.

Im Epilog wechseln Sie aber die Perspektive, da erzählt Ed in der Ich-Form.
Ja, er tritt heraus aus dem Geschehen und liefert eine Art Bericht, das passiert allerdings erst zweieinhalb Jahrzehnte später. Das Pathos des 24-jährigen ist weg. Der Epilog war zunächst nicht geplant, ich bin bei meinen Recherchen eher zufällig auf dieses Interview mit dem alten dänischen Hafenmeister von Moen und Klintholm gestoßen, der darin von den Flüchtlings-Toten erzählt, die es von Hiddensee und Rügen her vor seiner Haustür angeschwemmt hat und die dann in die Forensik nach Kopenhagen abtransportiert wurden. Ich hatte damals sofort das Wort vom "Museum der Ertrunkenen" im Kopf, das in mir arbeitete, so lange, bis ich dachte, du musst dorthin, schauen, wo die Toten liegen, was mit ihnen geschehen ist seitdem.

Gerade das Ende des Romans, der lange Epilog, liest sich wie eine Hommage an die Toten, an die, die die Flucht aus der DDR übers Wasser versucht haben.
Das Überraschendste war, dass sich für den Verbleib der Toten nie wirklich jemand interessiert hat. Es gibt viele Filme über geglückte Ostsee-Fluchten, über zwei Surfer, die es geschafft haben, oder einen Schwimmer, viele von denen hat man ausgiebig porträtiert. Die unbekannten Wassertoten waren weniger von Interesse. Sogar der Ort in Kopenhagen, von dem es hieß, dass sie dort beerdigt sind, war falsch.

Und es gibt den Flüchtling, der es von Rostock über Hiddensee nach Syrakrus geschafft hat - das Vorbild für den Helden in Friedrich Christian Delius’ Erzählung „Von Rostock nach Syrakrus“. Sie bedanken sich am Ende nicht nur bei den Klausner-Mitarbeiten von damals, sondern auch ausdrücklich bei Delius.

Tatsächlich war Christian Delius der erste Schriftsteller in meinem Leben, den ich um Rat gebeten habe. Er hat mir sehr geholfen und ist mir mit guten Ratschlägen zur Seite gestanden, als ich damals mit dem ersten Romanentwurf nicht weiterkam. Zum anderen haben wir uns natürlich über jenen Paul Gompitz in seinem Roman unterhalten, Klaus Müller heißt der in Wirklichkeit. Er ist damals von Delius von Beginn an mit 25 Prozent an den Einnahmen des Buches beteiligt worden. Müller ist mit einem kleinen Boot geflohen, er hat den Kiosk des Klausners betrieben, eine Szene in meinem Buch verweist auf ihn. Ich habe Müller nach meiner Lesung auf Hiddensee kennengelernt. Wir haben uns gut unterhalten. Im Grunde bis heute unfassbar, wie er das geschafft hat, mit der Jolle die Südspitze der Insel zu umfahren, viele Insulaner meinen, das wäre eigentlich unmöglich, schon von den Wasserverhältnissen her.

Müller freut sich nun darüber, dass er über ihr Buch wieder ein bisschen bekannter wird, er hat seine Geschichte auch gerade in Buchform herausgebracht. Wie geht es Ihnen jetzt mit der Nominierung für den Buchpreis?
(lacht). Ach, darüber reden wir jetzt nicht. Ich freue mich, dass das Buch schon viele Leser gefunden hat. Die Vorstellung, dass da jemand in Aachen oder Gelsenkirchen sitzt und meinen Roman liest, die finde ich phantastisch genug!

Lutz Seiler wurde 1963 in Gera/Thüringen geboren, er lebt heute in Wilhelmshorst und Stockholm. 1995 debütierte er mit dem Gedichtband „Berührt – geführt“, es folgten weitere Lyriksammlungen wie „Pech und Blende“ und „Vierzig Kilometer Nacht“. Seit 1997 leitet Lutz Seiler das literarische Programm im Peter-Huchel-Haus in Wilhelmshorst. 2007 bekam er für die Erzählung „Turksib“ den Ingeborg-Bachmann-Preis. 2009 erschien von ihm ein Band mit Erzählungen. „Kruso“ ist Lutz Seilers erster Roman. Dieser ist für die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominiert.

Das Gespräch führte Gerrit Bartels.

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