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Büchner-Preis: Friedrich Christian Delius: Ein Literat und Gentleman

"Wenn ich Bilanz ziehen könnte, würde ich keine Bücher schreiben", sagt Friedrich Christian Delius, der am Samstag den bedeutenden Büchner-Preis erhält. Denn: "Bilanzieren heißt ja abschließen." Und das kann er nicht.

Es ist der Tag nach dem Literaturnobelpreisentscheid, und als die Rede darauf kommt, dass der schwedische Lyriker Tomas Tranströmer ihn in diesem Jahr bekommen wird, gerät Friedrich Christian Delius das einzige Mal ein wenig außer sich. Diesen Trubel habe es vor zehn, 15 Jahren noch nicht gegeben. Die Wetten vorher, die Aufregung nach der Bekanntgabe, manchmal der Streit, ob die Preisverleihung gerechtfertigt sei. „Das hat alles übertriebene Ausmaße angenommen“, sagt er.

Delius ist ein distanzierter Beobachter. Jedenfalls kann man ihn dafür halten mit seinem vornehm nüchternen Gesicht, den hinter einer braun geränderten Brille lauernden Augen. Aber diesmal ist er selbst ein bisschen betroffen. Immerhin soll er an diesem Samstag in Darmstadt ebenfalls einen Preis bekommen, den Georg-Büchner-Preis, die bedeutendste literarische Auszeichnung für einen Schriftsteller in Deutschland. Nicht alle sind davon begeistert.

Nun sitzt er an einem Freitag im Oktober im Café Manstein am Lietzensee in Berlin-Charlottenburg, nur ein paar Häuser von seiner Wohnung entfernt. Obwohl das Café zum verabredeten Termin gerade erst öffnet, hat er einen Tisch reserviert. Er trägt einen sandfarbenen Anzug, der sein rot-violett-gestreiftes Hemd umso besser zur Geltung bringt. Ausgehkleidung und Lieblingskleidung. Auf Fotos sieht man ihn oft in dieser Garderobe. Nun fragt er, wie lang das Gespräch denn dauern solle.

Delius will zur Sache kommen. Es gibt Klärungsbedarf. Nach der Bekanntgabe des Georg-Büchner-Preisträgers im Mai gab es einige irritierende Reaktionen. Auf Delius und sein Werk wollte dabei kaum jemand etwas kommen lassen. Das Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung aber, das den Preisträger auswählt, wurde heftig kritisiert. Delius selbst gehörte dem Gremium, das alle drei Jahre neu gewählt wird, bis 2008 an.

„Guter Mann, falsche Wahl“, war ein Kommentar in der „Süddeutschen Zeitung“ überschrieben, der dann auch hübsche dialektische Klimmzüge enthielt. „Es hat etwas Unziemliches und Rücksichtsloses“, hieß es da, „wenn die Deutsche Akademie die Literaturkritik dazu zwingt, Vorbehalte gegen eine Autorschaft anzumelden, über die man anderenfalls nie ein herabsetzendes Wort verloren hätte – und gegen einen Autor, den man nur als angenehmen Menschen kennenlernen kann.“ Auch die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ zeigte sich zwiegespalten in der Beurteilung von Schriftsteller und Juryentscheidung: „Seine Wahl ist eine vernünftige, achtbare, aber etwas flaue Entscheidung.“

Lesen Sie auf Seite zwei, wie Friedrich Christian Delius auf die Kritik reagiert.

Nicht eben schmeichelhaft so etwas. Wie geht der 68-jährige Mann also damit um, dass seine Lebensleistung im Lichte eines Preises, der sie würdigen soll, einigen nicht genügt? Delius findet das nicht weiter schlimm. Zumindest gibt er das vor. „Das ist üblich“, sagt er, „das wird oft so gemacht. Ich bin seit über 40, nein, man darf es gar nicht sagen, seit fast 50 Jahren in diesem Literaturbetrieb. Ich kenne die Rituale. Da ein Kritiker im Schnitt vielleicht ein, zwei Bücher von den namhaften Autorinnen und Autoren kennt, da alle wenig oder fast nichts voneinander wirklich gelesen haben, hat dieser Betrieb börsenhafte Züge.“

Seine Stimme ist leise, sie hat Mühe, gegen die Geräusche im Café anzukommen. Vielleicht ist sie auch ein Grund dafür, dass sich in der Delius-Büchner-Debatte kaum ein Befürworter fand, der so vehement aufgetreten wäre wie die Kritiker. „Das Aufeinanderherumhacken gehört dazu“, sagt er. „Das muss man ertragen.“ So wie er das sagt, gleichmütig, ohne die Stimme zu heben, scheint er es wirklich zu ertragen.

Vier, fünf Verrisse gab es in seinem Schriftstellerleben, über die er sich sehr geärgert habe, sagt Delius dann. Einmal hat er sich zum unerbittlichsten Kritiker seiner selbst gemacht, als er in dem spielerischen Büchlein „Die Minute mit Paul McCartney“ von 2005 eine Rezension über sich schrieb. Auf 66 verschiedene Arten schildert Delius eine Begegnung mit dem gerade seinen Hund ausführenden Beatles-Musiker Paul McCartney 1967 im Londoner Regent’s Park. Als Anagramm zum Beispiel, als Eilmeldung, als Augenzeugenbericht. Und eben einmal als Rezension: „Wieder einmal scheitert Delius“, heißt es da. „Auch in seinem neuen Buch kann er sich nicht entscheiden zwischen Roman und Dokument, zwischen lyrischer Kurzform und epischer Breite, zwischen Realismus, Autobiografie und literarischem Spiel. Was für ein großer Roman über die Vorzeit von 1968 hätte hier entstehen können! (…) Dieser Autor kann nicht erzählen oder will nicht erzählen. Noch schlimmer: Er weigert sich beharrlich, so zu schreiben, wie er nach unserer maßgeblichen Meinung schreiben sollte.“

Delius hat hier auf einer knappen Buchseite präzise zusammengefasst, was Literaturkritiker seit seinen Anfängen als Lyriker in den mittleren 60er Jahren an ihm auszusetzen hatten – und er hat es mit großem Vergnügen getan, wie er sagt.

Als 21-Jähriger hatte er einen ersten Auftritt bei der Gruppe-47-Tagung im schwedischen Sigtuna. Auf den sollten bis zum Ende der Gruppe im Jahr 1967 drei weitere folgen. Doch außerhalb des Literaturbetriebs fiel Delius erst 1972 mit seiner ersten größeren Prosaarbeit „Unsere Siemens-Welt“ auf. In diesem als „Festschrift“ deklarierten Buch machte er sich über die Sprache und die Rhetorik des Siemens-Konzerns lustig, ironisierte und parodierte sie. Was zur Folge hatte, dass Siemens Unterlassungsklagen gegen ihn anstrengte und vor Gericht ging.

Eine Romantrilogie, in der sich Delius intensiv mit dem Deutschen Herbst auseinandersetzt, etwa der Schleyer-Entführung und Mogadischu, ließ ihn dann endgültig zum „Polit-Delius“, „zum 68er-Delius“ werden. Das sind Etiketten, die ihm bis heute anhängen und gegen die er sich mitunter, 1998 in einem Selbstporträt zwar heftig, aber erfolglos gewehrt hat. „In Deutschland steckt schnell in der sogenannten politischen Ecke, wer die Auswirkungen historischer Ereignisse auf die Gemütslage und das Verhalten von Subjekten und Figuren nicht vergisst, ja, sogar poetisch mitdenkt. Als wäre nicht jede Liebesgeschichte mit gesellschaftlichen Banden beschwert.“

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum das Scheitern für Delius zum Schreiben dazu gehört.

Jetzt, im Café Manstein, sagt er lieber, dass er sich immer gern an einen Ausspruch des britischen Schriftstellers John Donne gehalten habe: „To find out what you cannot do – and than go and do it. Man muss scheitern können, man muss Risiken eingehen, sonst hat das Schreiben keinen Sinn.“

Das klingt natürlich gut, das klingt nach schweren Kämpfen – aber wie diesen Satz in Einklang bringen mit dem etwas spröde und distanziert wirkenden Herrn, der einem an diesem Vormittag gegenübersitzt?

Beim Abhören der Tonbänder später fällt einem erst auf, dass Delius des Öfteren in sich hineingegluckst oder offen losgelacht hat. War das nicht zu sehen gewesen? Ist sein nüchternes Äußeres eine optische Täuschung?

Zugeknöpft ist er nur auf den ersten Eindruck, nicht zuletzt hat er auf einer für einen Schriftsteller seiner Generation ungewohnt ausführlichen Homepage ungewohnt viele Lebensdaten zusammengetragen: die Geburten seiner zwei Töchter zum Beispiel, der Tod des Vaters 1960, der der Mutter 1995, eine zweite Heirat, die die Verlagerung seines Lebensmittelpunktes nach Rom, wo er geboren wurde, zur Folge hat. Auch eine lebensgefährdende Nierentumoroperation Ende der 90er Jahre verschweigt er nicht.

Auf die Frage, warum seine späteren Bücher zunehmend autobiografische Züge tragen, zuletzt das Rom-Buch „Bildnis meiner Mutter als junge Frau“, ob es da im Alter eine Tendenz zum Bilanzieren gebe, antwortet er zunächst bestimmt: „Wenn ich Bilanz ziehen könnte, würde ich keine Bücher schreiben. Bilanzieren heißt ja abschließen. Jedes Buch entsteht aus neuen Fragen, aus neuen Erfahrungen heraus.“ Auch den Zuwachs an autobiografischem Stoff in seinem späteren Werk muss man so verstehen. Es hat viel mit der historischen Entwicklung in Deutschland zu tun. „Die Wiedervereinigung war eine Befreiung für mich als West-Berliner – und mir ist dann auf meinen Reisen ins Umland die mecklenburgische Herkunft meiner Mutter erst richtig bewusst geworden. Ich begann viel besser zu verstehen: Wer bin ich? Wo komme ich her? Woher rührt mein affektives, emotionales Verhältnis zur Sprache?“

Delius lacht, als er das sagt, der Delius-Humor. „Da können Sie jetzt einen schönen Verriss drüber schreiben.“ Denn es stimmt natürlich. Sein Verhältnis zur Sprache, nicht nur zur geschriebenen, treibt ihn seit seinen ersten Schreibversuchen um. In seinem autobiografischsten Buch, der Erzählung „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“, hat er sein Stottern als Kind und auch seine Schuppenflechte zum Thema gemacht, die kurze Befreiung davon, vor dem Radio, als Deutschland 1954 Fußballweltmeister wurde. „Die Reporterstimme klang im ganzen Körper nach, und der Sieg stieß mich in einen Zustand des Glücks, in dem ich Stottern, Schuppen und Nasenbluten vergaß und das Gewissen und alle Gotteszangen von mir abließen.“

Das Pathos des Sieges, Gotteszangen, die so heftig empfundene Befreiung eines verschüchterten Jungen wollen nicht recht zu der Person passen, die ein paar Tage später auf der Buchmesse von Termin zu Termin eilt. In halbstündigen Gesprächen soll er Auskunft über sich geben. Dabei berichtigt er schon einmal einen Moderator, wenn der einen seiner Buchtitel falsch ausspricht.

Auf der Messeparty seines Verlages steht er dann mitten im Gewühl, die Szenerie durchaus genießend. Als er auf den Deutschen-Buchpreis-Gewinner Eugen Ruge trifft, schüttelt er diesem die Hand und gratuliert ihm „von Herzen“. Ruge freut sich darüber. Da stehen sie sich also gegenüber – der Schriftsteller aus dem Osten, der fast vierzig DDR-Jahre in einem einzigen Familienroman untergebracht hat. Und der Schriftsteller, der in Nordosthessen groß geworden ist und in seinen Büchern stets aufs Neue erst die Zeitläufe in der Bundesrepublik und dann im wiedervereinigten Deutschland zum Thema gemacht hat. Sie lächeln sich an, sie sind sich einander zugetan – aber zu sagen haben sie sich weiter nichts.

Delius wird glücklicherweise gleich wieder in Beschlag genommen. Von seiner Tochter Mara, die als Kulturjournalistin arbeitet und ihm einen ihrer Kollegen vorstellen will. Er freut sich, er bemüht sich, er erzählt eine Geschichte.

Und unweigerlich muss man an das denken, was er im Charlottenburger Café Manstein über den Einfluss noch so heftiger Kritik auf sein Leben und Schreiben gesagt hatte: „Ich habe mir immer gesagt: Du musst das machen, was du machen willst. Eigensinnig und offen für alles, oder sagen wir, für möglichst viel. Hauptsache unideologisch. Und du musst der bleiben, der du sein willst.“

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