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Sinnsucherin. Sibylle Lewitscharoff erhält den Büchner-Preis im Oktober in Darmstadt.

© Julia Zimmermann/laif

Büchner-Preis geht nach Berlin: Zu viel Wahrheit tut nicht gut

Metaphysische Spiele: Die Berliner Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff erhält den Georg-Büchner-Preis.

Von Gregor Dotzauer

Wie gerne würde man einen einzelnen ihrer Sätze unters Mikroskop legen und sagen: Hier ist sie, die syntaktische DNA der Literatur von Sibylle Lewitscharoff. Die Gewebeprobe, die den ganzen, gut durchbluteten Sprachkörper auf Anhieb sichtbar werden lässt, weil eines der größten Vergnügen ihrer Prosa doch die Eigenwilligkeit des Vokabulars ist. Das auffangsame Ohr. Das Beranntwerden mit Gedanken. Das melodischere Leben. Der habhafte Löwe. Doch das Klima ihrer Literatur lässt sich mit spontanen Messungen weder einfangen noch hochrechnen.

Es braucht die Entwicklung: den Absatz, die Seite, den Durchzug der Satzzeichen auf breiter Front, die alles an Erregtheit, Verwunderung und Atempausen mittragen, was den Ton ergibt. Lange vor jeder Gedanklichkeit, die diese Literatur in starkem Maße zu bieten hat, breitet er sich aus. Tendenziell auf Höhe aus, wird er immer wieder von schamlosen Alltäglichkeiten gebrochen, ohne dass es um Ernüchterung ginge.

Es kann momentelang umständlich werden, wenn altfränkische, oder um Lewitscharoffs Herkunft aus Stuttgart-Degerloch gerecht zu werden, altschwäbische Einsprengsel ihn durchweben, und fügt sich doch gleich wieder, umgangssprachlich zurechtgezurrt, ins Zeitgenössische. Eine Jean Paul’sche Wortfindungsbesessenheit ist da am Werk, deren Wucherungen zugleich von einer lutherischen Prägnanz im Zaum gehalten werden, und Robert Walser’sche Lieblichkeitsexerzitien stehen neben terrierhaften Bosheitsattacken.

Über wie viele deutschsprachige Erzähler kann man so lange reden, ohne sich auf ihre Stoffe zu beziehen? Allein das spricht für den Rang von Sibylle Lewitscharoff. Dass sie nun mit Deutschlands renommiertestem Literaturpreis, dem mit 50 000 Euro dotierten Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet wird, ist nach der stetig ansteigenden Preisflut der letzten Jahre zwar kein Wunder, aber ein schönes Zeichen – und eine Ermunterung ans große Publikum, sich ins aberwitzige Dickicht einer Schreibkunst hineinzubegeben, die von ihrer Vortragskunst noch zusätzlich ausgeleuchtet wird. Man muss wenigstens einmal gehört haben, wie sie das von Natur aus zum Verwaschenen neigende Stuagarderisch kultiviert und temperamentvoll überartikuliert, und man wird nie vergessen, was hier einmal zwischen Backen und Zunge durch den Mund gerollt sein muss, bevor es aufs Papier entlassen wurde.

Wenn sie heute eine der fantasiebegabtesten, verspieltesten und zugleich tiefsinnigsten Schriftstellerinnen deutscher Sprache ist, so musste sie ihr Talent doch beharrlich zurechtschleifen. 1954 als Tochter eines bulgarischen Arztes und einer Deutschen geboren, brauchte sie geschlagene vierzig Jahre, bis sie 1994, nach zahllosen verworfenen Schreibversuchen, ihr erstes Buch veröffentlichte. Aber auch dem folgte eine Entwicklung, in deren Verlauf das freundlich Überquellende, ja zuweilen Überkandidelte ihrer Prosa, mehr und mehr von ihrem Intellekt in Zucht genommen wird und heute in friedlicher Koexistenz mit philosophisch-theologischen Ambitionen lebt.

Das Debüt „36 Gerechte“ war eine Sammlung kapriziöser Prosastückchen, die sie selbst auch illustriert hatte: Überhaupt ist sie nicht nur ein Sprach-, sondern auch ein Augenmensch. Ihre Arbeits- und Notizbücher sind voller Zeichnungen und Scherenschnitte, und mit dem Maler Friedrich Meckseper hat sie einen Mann an ihrer Seite, der seine eigene Mischung aus gegenständlicher Konkretion und frei fliegender Fantasie verfolgt. Mit „Pong“ – für einen Auszug gewann sie den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb – stellte sie 1998 erstmals größere Erzählzusammenhänge her und ließ durch ihren verrückten Protagonisten, eine Kunstfigur von allenfalls fragmentarischem Zuschnitt, doch vor allem den Wind des Absurden pfeifen.

„Der höfliche Harald“ brachte ihre Welt Kindern nahe, bevor sie in „Montgomery“ acht turbulente Tage in Rom mit dem Filmproduzenten Montgomery Cassini-Stahl inszenierte. Da war sie längst ein Name. Doch den Stand der Meisterschaft erreichte sie erst 2006 mit „Consummatus“. Halb Orpheus in der Unterwelt, halb spiritistisches Medium, unternimmt sie darin einen Dialog mit den Toten, erhört und übersetzt Stimmen aus einem Jenseits, in dem auch Andy Warhol, Nico und Jim Morrison anzutreffen sind – und das alles in einem schweren Stuttgarter Winter, in dem die Schneeflocken gegen Ende sogar typografisch über die Seiten treiben.

Seitdem erfüllt etwas Numinoses ihre Texte – bis hin zu ihrer Hommage an den jüdisch-katholischen Agnostiker Hans Blumenberg in „Blumenberg“. In der bildstarken Ausgestaltung, bei der in „Consummatus“ ein „Jesusflitzer“ übers Wasser eilt und in dem großen Bulgarientrip „Apostoloff“ die Engel ihre Flügel knattern lassen, ist das Ironische einerseits offenkundig. Andererseits ist es das einzige Licht, in dem man den „Botschaftsverkehr zwischen Oben und Unten“, wie sie ihn in ihren Poetikvorlesungen „Vom Guten, Wahren und Schönen“ genannt hat, noch rücken kann, ohne evangelikaler Agitationsreden geziehen zu werden.

„Zuviel Wahrheit bekommt dem Menschen nicht“, erklärt sie denn auch an gleicher Stelle – Plädoyer für ein Maß, das sich in ihrem Bekenntnis zu literarisch keuschen Autoren wie Franz Kafka und Samuel Beckett auf ganz anderem Gebiet wiederholt. So wie beide es im Leben deutlich enthemmter trieben, mag es sein, dass auch Sibylle Lewitscharoff persönlich ein intimeres Gespräch mit Gott unterhält, als es weltlichen, ozeanischen Gefühlen nicht einmal grundsätzlich abholden Gemütern lieb ist. Der Bericht von einem Offenbarungserlebnis, den sie vor einem Jahr im Haus der Berliner Festspiele in einer Diskussion mit ihrem Freund Martin Mosebach gab, spricht dafür. Das Großartige ist freilich: Für die Bedeutung ihrer Literatur als Sprachkunstwerk und Gedankenexperiment kommt es darauf gar nicht an.

War es die geliebte Degerlocher Großmutter, deren pietistische Prägung ihr das Glaubensinteresse eingab? Der Selbstmord des Vaters, als sie elf Jahre alt war? Das Studium der Religionswissenschaft bei Klaus Heinrich an der Freien Universität? Die Suche nach dem größtmöglichen Abstand zu ihrer spartakistischen Episode? Die Bücher geben darüber, bei allen autobiografischen Spuren, die vor allem in „Apostoloff“ zu sehen sind, keine Auskunft und brauchen es auch nicht.

Jetzt ist mit „Killmousky“ erst einmal etwas Anderes geplant: ein Krimi um den Verhörkönig Richard Ellwanger, angesiedelt zwischen New York und dem Hohenlohischen. Aber es würde mit dem Teufel zugehen, wenn in diesem Anderen nicht auch das ganz Andere im Spiel wäre.

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