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© Berliner Festspiele/Wimmer

Berliner Theatertreffen: „Die Jury hat einen Knall“

Ortstermin im Engadin: Warum Marthalers „Waldhaus“-Stück zum Berliner Theatertreffen eingeladen ist, aber nicht kommen kann

Ist Theater nicht eine unaufhörliche, unendliche Familiengeschichte? Und ist die Marthaler-Familie nicht die beständigste, produktivste, uns vertrauteste Theaterfamilie? Noch nicht hundertjährig, wie das Hotel Waldhaus in Sils-Maria. Aber vertraut seit 1993, seit „Murx den Europäer!“ an der Berliner Volksbühne, das fünfzehn Jahre dort lief und die erste von dreizehn Einladungen zum Berliner Theatertreffen war. Seitdem ist Theater nicht mehr denkbar ohne Marthaler und seine Sitzenden, Schweigenden, Scheiternden, Singenden, seine Menschendarsteller.

Zur Aufführung. Nein, zum Hotel, nein, zur letzten Hotelaufführung von „Das Theater mit dem Waldhaus“. Es ist dieses Jahr zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen, kann aber aus nahe liegenden Gründen nicht reisen – wie und wohin soll man ein Hotel, dieses Hotel verpflanzen? Also sind einige Kritiker zum Berg in die Schweiz gereist. Wenn das Mode wird, kann man sich irgendwann das Theatertreffen sparen – dann gehen die Zuschauer, nicht mehr die Bühnen auf Tour.

Wir werden begrüßt von Intendant Felix Dietrich, nebenbei Hoteldirektor, der mit seiner Frau Maria und Urs Kienberger und 140 Angestellten diesen Zauberort leitet und mal eben eine Theaterinszenierung passieren ließ. Hier waren Einstein und Adorno zu Gast, Richard Tauber und David Bowie, Marc Chagall und Joseph Beuys, Visconti und Chabrol, der hier übrigens einen Film drehte. Jetzt läuft Christoph Marthaler glücklich und bescheiden durch die Halle und bleibt in der Bar. Draußen liegt meterhoch Schnee, die Tannen sind weiß getupft, Nebel wallt. Ein Zauberort, an dem Marthaler immer wieder gearbeitet, gelebt hat. Das Zuhause von Jürg Kienberger aus der Kienberger-Waldhausfamilie, aus der Marthalerfamilie.

Ein Familienstück, ein Geisterstück. Wie immer sitzen und liegen sie herum, schweigen, reden, wiederholen sich, singen und singen und singen, die dreizehn Sänger und Schauspieler, Musiker, Ehefrauen plus Hotel Trio Farcas und einem Jäger. In der Hotelhalle, auf der Galerie vor verglastem Halbrund, draußen der Wald. Singen meisterhaft, mehrstimmig, an- und abschwellend, so anrührend traurig, so komisch wie unheimlich präzise. Sehen wir Peter Altenberg, Nietzsche, Isabelle Huppert oder sehen wir Olivia Grigolli, Josef Ostendorf, Bettina Stucky, Ueli Jäggi oder Graham F. Valentine, den sprachakrobatischen Schotten, der ein Feuerwerk intoniert, wie wir es schöner nie hören könnten?

Wir sehen Hotelgäste, die Hotelgäste spielen, und sind Hotelgäste. Wir dinieren fünf-Sterne-mäßig und werden dabei besungen von Christoph Homberger und Rosemary Hardy, die übrigens am nächsten Tag hier geheiratet hat, so weit man weiß, nicht Herrn Homberger. So vermischt sich alles und Leben wird Theater und Theater wird Leben. Unser Leben, leider nur fünf Stunden lang.

Nach dem Menü ein Gang durch den Schnee, durch die Tiefgarage in die riesige leere Tennishalle. Josef Ostendorf füllt sie mühelos mit seiner melodiösen Stimme, die vom Sensenmann erzählt und dem Ding an sich „Ach, könnt ich doch den Blick von mir abwenden!“ Jeder dieser wunderbaren Ensemble-Solisten tritt einzeln auf, stellt sich auf die Mittellinie, macht eine kleine, unnachahmliche Pose, geht ab. Dann kommen sie zusammen, eine kleine Horde, sie besichtigen die Ecke dort, den Korbball da, sie besichtigen das Nichts. Oder das Ding an sich? Sie rutschen einer nach dem anderen von einer Turnbank, sind immer einer zu viel, bis der mächtige Josef Ostendorf kommt und alle flüchten und wieder kommen und plötzlich alle auf die Bank passen samt Ostendorf. Nur die Frau in Weiß mit Sonnenbrille bleibt weiter im Abseits, hinter einem vor der Rückwand hängenden Netz, diese Frau ist eine Unbekannte und gehört doch hierher, sie ist die Frau von Jürg Kienberger. Und das schöne, freche Mädchen, das mit seiner Handtasche imaginäre Tennisbälle ins Publikum schlägt, ist Marthalers Frau, Sasha Rau. Marthaler und seine Familie, das ist Staunen, Schwärmen, das ist Lieben. Und diese Liebe lässt sich einmal nicht verpflanzen.

Immerhin gibt es eine filmische Annäherung. Und immer wieder gibt es einen neuen Marthaler mit Familie. Vor der letzten Aufführung saßen Marthaler und Stephanie Carp und Anna Viebrock, die produktiven Drei, in der Hotelbar und arbeiteten am nächsten Projekt. Seine Schauspieler sangen sich ein, seine noch nicht zweijährigen Zwillinge schliefen, hoffentlich, und träumten von Paris. Wie sagte so schön und unbarmherzig Theatertreffenleiterin Iris Laufenberg? „Das Hotel Waldhaus muss für das Berliner Publikum ein Sehnsuchtsort bleiben.“

Marthaler erklärt die Einladung, die keine Einladung, sondern nur ein Besuch von wenigen Auserwählten sein kann, freudestrahlend für absurd, begeistert darüber „dass die Jury hier oben einen totalen Knall bekommen hat“. Und erzählt, dass er immer am liebsten Theater gemacht hat in Räumen, die keineswegs Theater sind, bis er Anna Viebrock traf, die ihm Räume im Theater baute. Für sein Nicht-Theater. Für seine Nicht-Schauspieler. Für ihn, den Musiker und Nicht-Regisseur.

Ulrike Kahle-Steinweh

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