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Helmut Schümann

© Kai-Uwe Heinrich

Erstbesteigung, Folge 5: Der Wagner-Novize trifft Anarcho-Siggi

Helmut Schümann wagt sich für Tagesspiegel.de an seine ganz persönliche Erstbesteigung des Grünen Hügels - Folge 5: Gescheitert an Siegfried.

Nicht, dass ich abgeprallt wäre an Siegfried, so wie die Marathonläufer an ihrer Mauer abprallen. Bin durchgestoßen, dahinter purzelten die Endorphine. Nicht gleich im orgiastischen Maße, aber in satt ausreichender Zahl, um leicht und beschwingt, erhoben und erhaben zur Götterdämmerung zu schreiten. Hügel-Gipfel, bald bin ich da! Und keinerlei Bedürfnis, gemeinsam mit Woody Allen in Polen einzumarschieren.

Ah, welche Kraft, welche Wucht, welche Pracht. Wir kommen klar, Wagner und ich, ja, hat mir gefallen, diese drei Akte des "Siegfried" (Gefallen, ist das ein zu banales, zu laienhaftes, zu profanes Kriterium? Ja, ist es. Später mehr).

Diese Bühne, ein Guckkasten, so hoch, so tief, so breit, so real und wahrhaftig, zehn High-Screener-Beemer in HD Ready-schieß-micht-tot Qualität können über- und nebeneinander zusammen nicht die Tiefenschärfe und den Tiefgang dieser Bayreuther Bühne erzeugen.

Dann der 1. Akt. Grandios, amüsant, voller Tempo, wenn auch nicht meinem Verständnis des Textes entsprechend. Da steht, dass Siegfried den Ziehvater Mime abgrundtief hasst, vice versa. Gestern herzten sich beide ab und an, tanzten fast Ballett, als Siegfried Nothung schmiedete, das Schwert der Freiheit, und Mime, gleich nebenan den Giftdrink mixte wie der Barkeeper im Berghain den Daiquiri.

Bei Wagner steht, dass die Schmiede ein garstiger Ort ist, in dem keine Freude zu haben ist. In diesem Jahr war er ein Physiksaal, ein Schulzimmer, insofern stimmt die Adaption. Aber Siegfried hat Spaß, und Mime, diese vermeintlich gleichermaßen geknechtete wie verabscheuungswürdige Kreatur aus der Tiefe des Erdreiches, geht es auch nicht schlecht. Am Ende der Szene gibt Mime den Charlie Chaplin und tanz auf dem Tisch, mit der Weltkugel in der Hand. Slapstick hatte ich bei Wagner nicht erwartet, hat aber funktioniert. Und dass Siegfried, Anarcho-Siggi, die Weltkugel mit einem Hieb zerschlägt, aber ja, auch das muss so sein: Wer Neues schaffen will, muss erst einmal Platz machen und das Alte vernichten.

Mächtig stolz gewesen, dass ich das alles gesehen und erkannt habe. Habe nach der Zustimmung der Profis in der Pause innerlich notiert: "Was macht Wagner mit mir? Wagner schärft die Sinne!" Rückenschmerz? Welcher Rücken?

Der 2. Akt, der 3. Akt, bildmächtig, gewaltig, fast berauschend. Und sogar versöhnlich schon im 2. Akt. Erst erschlägt Siegfried Mime, und schließt ihn am Ende in die Arme. Hat er sich besonnen, er, der bislang nur einen Menschen kennt, eben Mime, und ansonsten Fafner, den Wurm, den er auch schon beherzt gemeuchelt hat, und sich nun ganz allein wähnt auf der Welt? Hat er eingesehen, dass der sofortige Totschlag vielleicht nicht das probateste Mittel eines gedeihlichen Miteinanders ist?

Im letzten Akt - für meinen Geschmack zickt Brünnhilde ein wenig lange rum, bis sie sich Siegfried endlich hingibt, aber bitte, Wagner hat im 19. Jahrhundert gelebt und komponiert, das war das wohl so - im letzten Akt, als es wenig zu sehen gab außer diesem Gezerre, Siegfried: "Eine selige Maid versehrte mein Herz. . ." Brünnhilde: ". . .ich bin ohne Schutz und Schirm, ohne Trutz ein trauriges Weib!", als das schier endlos hin- und herwogte, da schloss ich die Augen und gab mich, wie sagt man, ganz der Musik hin. Ich nahm Wagner ins Ohr und er schaffte es ins Herz. Experiment geglückt, die Erstbesteigung kurz vor dem Gipfel?

Verhalten applaudierte das kundige Publikum, kein Bravo, kein Jubel. Der Fachmann zur linken sagte: "Brünnhilde kommt einfach nicht mehr in die Höhe, am Ende lag sie eine Achtelnote unter ihrer Tonlage, fürchterlich." Ich hatte das nicht bemerkt.

Der Fachmann in der Reihe hinter mir, der Wissende, sagte: "Wenn Brünnhilde forcieren sollte, eine Katastrophe, eine einzige Katastrophe." Ich hatte nicht einmal gehört, das Brünnhilde forcieren wollte.

Ich bin der Wagner-Trottel, gescheitert am Siegfried, an die Grenzen meiner Ahnungslosigkeit und um eine Achtelnote an die meiner Gehörlosigkeit gestoßen. Ein Bauch-Wagner. Bernard Shaw schreibt: "Wenn jedoch ihre Aufnahmefähigkeit" (gemeint sind die Zuschauer) "für Musik ebenso begrenzt sein sollte, wie ihr Verständnis für die Welt, wären sie besser weggeblieben."

So einer bin ich. Mühsam schleppe ich mich weiter, der Götterdämmerung, meiner Götterdämmerung entgegen.

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