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Festival: Erinnerungsbüro: Erzähl doch mal

Die Stadt als Bühne: das Festival "Theaterformen" in Hannover. Einer der bemerkenswertesten Beiträge ist das Projekt "Meine Großeltern - Erinnerungsbüro" von Mats Staub.

Auf den ersten Blick sieht Mats Staubs Projekt „Meine Großeltern – Erinnerungsbüro“ wie ein hippes Kunst-Event aus: Junge Menschen lümmeln mit iPods in charmant abgerockten Sesseln, blättern sich durch dunkelgraue Kataloge und betrachten Porträtfotos aus den 20er Jahren. Auf den zweiten Blick entpuppt sich dieses originelle Archiv als einer der bemerkenswertesten Beiträge zum Festival „Theaterformen“ in Hannover, das noch bis zum Wochenende mit 15 internationalen Produktionen aufwartet.

Knapp 300 Enkel verschiedener Generationen hat der in der Schweiz lebende Mats Staub nach ihren Großeltern befragt. So können Besucher seines Erinnerungsbüros, das seit einem Jahr beständig erweitert wird, via iPod aus zirka 600 Hörmonologen wählen. Während sich ein 30-jähriger Enkel der grenzenlosen Bewunderung für seine SchauspielerinnenGroßmutter hingibt, glaubt eine knapp 40-Jährige mit rumänischen Wurzeln, dass ihr Großvater unter Ceaucescu Menschen an den Geheimdienst verraten hat. Je länger man sich durch die Geschichten von Krieg, Eisernem Vorhang und Ehealltag zappt, desto heilloser scheinen sich Erinnerungen und Legenden zu verstricken, sodass man letztlich über die Großeltern genauso viel erfahren hat wie über die Verdrängungs- und Mythologisierungsstrategien ihrer Enkel. Vor allem aber gelingt es Staub,beiläufig das Verhältnis zwischen Individuellem, System- und Generationstypischem herauszuarbeiten.

Tatsächlich ist es nur geringfügig übertrieben, wenn man die Vielfalt dieser Großeltern-Geschichten mit der Spannbreite des gesamten Festivals vergleicht. Dessen neue Leiterin Anja Dirks hat das Motto „Theaterformen“ beim Wort genommen und aus den rund 200 Projekten, die sie jährlich weltweit sieht, ein hochklassiges Programm kuratiert. Dass man an einem x-beliebigen Festivaltag mit sechs Produktionen keine einzige sieht, über die sich nicht zumindest qualifiziert streiten lässt, geschieht selten genug, um als zuverlässiger Qualitätsbeweis gelten zu dürfen.

Die 39-jährige Dirks hat vom klassischen Schauspiel bis zum wissenschaftlichen Tagungsformat kein Genre ausgelassen und zudem Gespür für die ideale Mischung durchgesetzter Namen mit Newcomern bewiesen. Während sich britische Performerinnen in „Between the Devil and the Deep Blue Sea“ mit skurrilen Cabaret-Anleihen in Stummfilmszenen beamen, wurde das abwechselnd in Hannover und Braunschweig stattfindende Festival mit der orientalischen Familien-Zirkusshow „Taoub“ eröffnet. Eine Tradition, die Dirks von ihrem Vorgänger Stefan Schmidtke übernommen hat: Der entdeckte in Niedersachsen eine ausgeprägte Laienzirkusbewegung. Unter der Leitung des inzwischen zur „Kulturhauptstadt Europas 2011“ nach Tallinn abberufenen Schmidtke waren die „Theaterformen“ nach mehrjähriger Pause 2007 reanimiert worden – mit der Auflage, es künftig stärker auf die jeweilige Austragungsstadt zuzuschneiden.

Da trifft der e Auftrag glücklicherweise mal mit einem künstlerischen Trend zusammen. Denkt man an Matthias Lilienthals Kiezwohnungsformat „X-Wohnungen“, sucht die Theaterszene ihr performatives Potenzial in den letzten Jahren sowieso eher außerhalb der etablierten Orte. Als augenfällige Schülerin des Berliner HAU-Chefs Lilienthal, dem sie beim Festival „Theater der Welt“ im Ruhrgebiet assistierte, macht auch Dirks im Zweifelsfall die Stadt einfach selbst zur Bühne.

So hat der niederländische Regisseur Dries Verhoeven für seine City-Tour „Niemandsland“ eigens eine Hannover-Fassung kreiert. Der Stadtrundgang beginnt am Hauptbahnhof damit, dass man von einem „persönlichen Guide“ mit Migrationshintergrund in Empfang genommen und eine Stunde lang durch Stadtteile geführt wird, die man als Tagestouristin wahrscheinlich nicht besucht hätte. Über Kopfhörer haut einem eine Schauspielerstimme dabei so ziemlich alle Ressentiments um die Ohren, die der In- über den Ausländer so im Kopf hat und umgekehrt. Probleme dürfte allerdings bekommen, wessen Vorurteile nicht in den Klischees aufgehen, die zur Sprache kommen.

Solche Schwierigkeiten treten bei der scharfsinnigen Resteverwertung überkommener Ideologien, die die Berliner Truppe andcompany&Co. in ihren Performances sampelt, garantiert nicht auf. In Hannover hat andcompany unter dem Motto „City Circus Zero Work“ Schüler vom „jungen schauspiel“ mit einer subversiven Zirkusidee und jeder Menge Britney-Spears-, Honecker- und ObamaDevotionalien zusammengebracht und dabei in aller Lässigkeit bewiesen, welchen Charme intellektueller Restmüll haben kann – zumal, wenn er von derart engagierten Jugendlichen performt wird.

Ab heute ist der französische Theatermacher Philippe Quesne mit seinen gewitzt-melancholischen Performances „L’Effet de Serge“ und „La Mélancolie des dragons“ zu Gast. In beiden Fällen stehen selbst ernannte Künstlerpersönlichkeiten im Mittelpunkt, die ihr Umfeld mit so absonderlichen Nummern beglücken, dass man sie wunderbar als Schlüsselperformances für die Theaterszene lesen kann. Es war übrigens Dirks, die den mittlerweile zum internationalen Festivalliebling avancierten Quesne vor Jahren in Paris entdeckt und ihm zu seinem ersten außerfranzösischen Auftritt verholfen hat.

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