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Helmut Lehnert, Bar jeder Vernunft: "Es ist ein Sprung ins kalte Wasser"

Helmut Lehnert wechselt nach dreißig Jahren Rundfunk zur Bar jeder Vernunft. Warum? Aus Wagemut.

Herr Lehnert, Sie haben das Programm von SFB, ORB und RBB mitgeprägt, haben Radio Fritz und Radio Eins aufgebaut. Warum wechseln Sie jetzt, mit 58, noch einmal die Kommandobrücke und werden neuer Künstlerischer Leiter der Bar jeder Vernunft und des Tipis am Kanzleramt?



Der RBB hat seine Struktur verändert. Die neuen Aufgaben, die auf mich zugekommen wären, hätten sehr viel mit Management und Organisation zu tun gehabt. Was mir am meisten Spaß macht, nämlich Formate zu entwickeln, wäre stark in den Hintergrund gerückt. Außerdem hatte ich im vergangenen Dezember einen Blinddarmdurchbruch. Das war sehr knapp, wie eine rote Karte. Ich habe beschlossen, nicht so weiterzumachen wie bisher.

Arbeit werden Sie in ihrer neuen Position nicht weniger haben.

Nein, aber Stress hat dann negative Auswirkungen, wenn einem die Arbeit nicht liegt.

Sie sind ein Popmensch. Plötzlich sollen Sie für das künstlerische Profil zweier Kleinkunst-Theater zuständig sein. Wie passt das zusammen?

Es ist ein Sprung ins kalte Wasser, keine Frage, aber ich kriege das hin – weil der Unterschied zwischen Medien und Theater nicht so groß ist. Es geht darum, Menschen zu unterhalten, das schlägt sich in Quoten oder Kartenverkäufen nieder. Übrigens habe ich, bevor ich zum SFB kam, Theaterwissenschaft studiert und ein eigenes Theater an der Köpenicker Straße geführt, es hieß „Theater an der Mauer“ …

… das Sie in den Sand gesetzt haben ...

Ich war noch zu unerfahren. Aber eigentlich war das immer das, was ich machen wollte: inszenieren. Das geschieht im Theater sehr viel direkter als beim Radio oder gar beim Fernsehen. Ab dem Moment, wo jemand die Bühne betritt, ist kein Halten mehr.

Heißt das, dass sie 30 Jahre lang unglücklich waren beim Rundfunk?

Überhaupt nicht. Ich hatte die Möglichkeit, mehrere Radiosender aufzubauen. Es war ein Geschenk. Ich habe nie etwas bereut.

Lutz Deisinger, ihr Vorgänger als Künstlerischer Leiter, hat die Bar jeder Vernunft 1992 mit Holger Klotzbach gegründet. Jetzt hört er auf. Ein Epochenbruch?

Holger Klotzbach und ich sind seit 30 Jahren befreundet. Lutz Deisinger kenne ich sehr gut, wir haben viel und intensiv miteinander geredet. Ich bin regelmäßig Gast in beiden Häusern. Insofern sehe ich keinen Bruch.

Es bleibt also alles, wie es ist?

Ich hatte immer den Auftrag, Dinge zu verjüngen, was ich beim RBB mit Jörg Thadeusz, Kurt Krömer oder die NachtTaxe auch geschafft habe. Ich könnte mir vorstellen, dass das auch hier möglich ist, unter anderem durch Musik. Damit meine ich keine Rockkonzerte, die können im Postbahnhof oder in der Columbiahalle stattfinden. Aber es gibt zur Zeit unglaublich viele klassische Musiker, die in der Nachfolge von Nigel Kennedy keine reinen Klassikkonzerte mehr machen, sondern gemeinsam mit Popmusikern und DJs auftreten.

Grenzüberschreitungen haben immer schon zum Zwitterwesen Varieté gehört. Was ist daran so neu?

Unsere Bühnen sind nicht genretreu und trennen nicht zwischen E und U. Sie signalisieren nicht: Okay, wir sind Varieté, und deshalb müssen hier Künstler mit Keulen jonglieren. Das Theater, das hier gemacht wird, ist auch nicht klassisch. Es nutzt, wie beim Musical „Cabaret“, diesen sehr speziellen Raum, die Inszenierungen haben immer was mit dem Ort zu tun, trotzdem spielen sie mit klassischen Stilformen und mit Humor. Diese Mischung hat sie interessant gemacht.

Wie viel hat dieser Ansatz noch mit dem Berlin der zwanziger Jahre zu tun und worin unterscheidet er sich?

Es unterscheidet sich durch die Zeit, in der es stattfindet. Beide Bühnen schöpfen aus einer großen Tradition, holen aber innerhalb dieser Tradition Dinge ganz aktuell in die Jetztzeit hinein.

Hat das Varieté der 20er Jahre nicht von einer Krisenstimmung gelebt, die wir uns trotz Finanzkrise heute nicht einmal mehr annähernd vorstellen können?

Man kann eine Stimmung, wie sie Ende der zwanziger Jahre in Berlin herrschte, höchstens noch inszenieren. Das müsste ganzheitlich geschehen, aber diese Inszenierung findet heute nur noch auf der Bühne statt, nicht im Publikum. Natürlich funktionieren Partys mit Zwanziger-Jahre-Flair, das kann man hinbekommen. Aber das ist immer etwas Aufgesetztes, Künstliches. Die Situation der zwanziger Jahre war aber authentisch.

Welche Gesellschaft spiegelt sich heute im Varieté?

Es gibt ein passives Publikum, das sich mit 25 eine Ikea-Wohnung kauft, in der es mit 60 immer noch lebt, und es gibt Menschen, die wissen, dass sich die Gesellschaft wandelt und die sich darüber Gedanken machen. Die nicht das haben wollen, was gestern schon da war. Und die kommen zu uns.

Hinterfragt das, was in der Bar jeder Vernunft und im Tipi stattfindet, unsere Gegenwart kritisch?

Die Frage ist zu hoch gegriffen. Beide Bühnen können nicht davon leben, dass sie gesellschaftliche oder philosophische Fragen stellen. Das muss leicht daherkommen, darf aber nicht blöd sein. Wir sind kein politischer Raum.

Wie bedroht ist das Varieté? Den Wintergarten hat es mittlerweile erwischt.

Das Varieté ist dann bedroht, wenn es nicht mehr weiß, was die Menschen interessiert. In den achtziger Jahren hätte der Wintergarten euphorische Erfolge gefeiert. Damals waren Feuerschlucker wirklich interessant, es wurde gezaubert nach allen Regeln der Kunst, der Zirkus wurde mit Roncalli quasi neu erfunden. Dann war aber ein Sättigungsgrad erreicht. Diese Art von Shows findet nicht mehr genügend Publikum, obwohl die Künstler immer besser werden, immer mehr Gegenstände in die Luft werfen und wieder auffangen.

Sie müssen die Krise erkennen, bevor sie da ist. Wie wollen sie das schaffen?

Indem ich sehr genau kulturelle Strömungen wahrnehme und darauf achte, was junge Leute sehen wollen. Ich bin regelmäßig in kleinen Läden, Konzerten und Off-Theatern in Kreuzberg und Mitte unterwegs und besuche Kleinkunstfestivals in New York oder London. In Hamburg habe ich jetzt ein Stück namens „Glow“ einer israelischen Theatertruppe gesehen. Sie spielen eine Liebesgeschichte mit so viel technischem Aufwand, dass man das Gefühl hat, man sieht eine Fernsehshow. Die möchte ich gerne nach Berlin holen.

Kommen auf Dauer nur die kleinen, wendigen Betriebe wie die Bar jeder Vernunft oder das Chamäleon durch, während die großen Tanker untergehen?

Für uns als kleineres Haus ist die größte Gefahr ein langweiliges Programm. Das Publikum darf nicht das Gefühl haben, es bekommt immer dasselbe.

Aber so funktioniert der Laden doch: Die gleichen beliebten Künstler kommen immer wieder.

Und es wäre verrückt, daran etwas zu ändern. Künstler wie Malediva oder die Geschwister Pfister werden immer wieder bei uns auftreten. Es kommt aber auf die Rotation an. Mitunter ist die Taktung zu dicht. Das muss man mit neuen Ideen versuchen zu entzerren.

Das Gespräch führte Udo Badelt.

Helmut Lehnert, geb. 1950, ist seit Mai Künstlerischer Leiter der Bar Jeder Vernunft und des Tipi und folgt Lutz Deisinger im Leitungsduo. Er gilt als einer der Radio-Erneuerer Berlins: 1987 wurde er SFB 2- Musikchef und leitete seit 1989 die dortige Jugendwelle. 1993 wurde er Chefredakteur des Jugendradios Fritz, leitete ab 1997 Radio 1 und wechselte 2005 zum rbb-Fernsehen.


Die von Holger Klotzbach und Lutz Deisinger gegründete Bar Jeder Vernunft im Original-Jugendstilzelt in der Schaperstr. 24 wurde 1992 eröffnet. Künstler wie die Geschwister Pfister oder Georgette Dee treten häufig im 250-Plätze-Zelt auf. Infos: www.bar-jeder-vernunft.de. Das im Januar 2002 eröffnete größere Tipi steht dort, wo sich Berlin schon vor 100 Jahren amüsierte: im Tiergarten neben dem Haus der Kulturen der Welt. Infos: www.tipi-am-kanzleramt.de

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