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Theater

© dpa

Lange Opern- und Theaternacht: Berlin ruft zum Bühnenmarathon

Bretter, die die Stadt bedeuten: Fünfzig große und kleine Berliner Bühnen aller Sparten laden am Samstag zu ihrer ersten "Langen Nacht" ein. Es ist eine große Tour de Chance.

Alle paar Jahre wird in Berlin das Theater neu erfunden, manchmal sogar öfter. Beständige Innovation ist für diese Stadt ein vertrautes Phänomen – und seit gut einem Jahrhundert, seit Max Reinhardt hier aus Wien auftauchte, eine historische Tatsache. Man kann sich darauf verlassen. Und es geht auch gar nicht anders: Aus diesem Erneuerungshochdruck der hauptstädtischen Theaterluft leiten die Bühnen ihren Erfindungsreichtum ab, ihren Charakter und letztlich ihre Existenz.

Manche sagen, dass Berliner Publikum sei verwöhnt; das bringt das volle Programm übers Jahr so mit sich. Vor allem aber ist es ein erfahrenes, theatergebildetes, neugieriges und treues Publikum. Und es wird in der „Langen Nacht“ des 25. April, wenn es im Halbstundentakt kreuz und quer durch die Stadt von Bühne zu Bühne hüpft, animierende Erfahrungen machen.

Im Jahr der Wirtschaftskrise 1929 hieß es in einem bibelschweren Buch zur Geschichte der deutschen Schauspielkunst: „Das reale Leben, mit seinem Hasten und Jagen des Alltags, der nervenzermürbende Daseinskampf, in dem nur die Höchstleistung gilt, entzieht dem Theater den Boden für ein ideales Gedeihen.“ Diese pessimistisch-idealistische Einschätzung war wohl schon damals, vor achtzig Jahren, falsch.

Im Krisenjahr 2009 jedenfalls trifft genau das Gegenteil zu. An einzelnen Häusern mag es zu anderen Zeiten bedeutendere, größere Theaterkunst gegeben haben, aber noch nie schien die Vielfalt, Lebendigkeit und Beweglichkeit der Theaterszene, der vielen unterschiedlichen Theaterszenen, so groß wie heute. Das Programm der ersten „Langen Nacht der Opern und Theater“ beweist es. Selbst professionelle Beobachter werden von der Fülle des Angebots immer wieder auf schönste überfordert und überrascht. Auch am 25. April fällt die Auswahl nicht leicht. Oder auch: je schwerer die Entscheidung, desto besser.

An dem Projekt der „Langen Nacht“ ist sehr lange gearbeitet worden. Es ist in dieser Form, in diesem Miteinander der Staatstheater und der kleinen und kleinsten Bühnen, der unterschiedlichsten Genres, Sprachen und Spielformen lange auch gar nicht denkbar gewesen. Denn es geht hier nicht nur um ein logistisch-organisatorisches Meisterstück, sondern um einen gemeinsamen Auftritt benachbarter und doch allein schon künstlerisch weit auseinander liegender Häuser und Ensembles. Was sich da präsentiert, ist nichts anderes als ein gigantisches Berliner Ensemble. Route 1 etwa führt von der Staatsoper Unter den Linden u. a. über den Admiralspalast und das Kabarett der Distel zu den Sophiensälen. Was für eine Spannweite! Und was mag die größte Entfernung sein, die man in dieser Nacht zurücklegen kann: von der Schaubühne am Lehniner Platz zur Schaubude in der Greifswalder Straße? Vom Zimmertheater Karlshorst zum Haus der Berliner Festspiele? Vom Theater unterm Dach in der Danziger Straße zum Theater Strahl in der Schöneberger Martin-Luther-Straße? Vom English Theatre Berlin zum Theater Thikwa – die spielen beide in der Fidicinstraße 40 in Kreuzberg!

Es scheint, als wollte sich die gesamte Berliner Theaterwelt in ihrer ersten konzertierten „Langen Nacht“ – nach den langen Museums- und Wissenschaftsnächten – neu erfinden. Die Idee ist so gut, so zwingend, dass sie Schule machen wird. Man wird ja nicht nur neue Künstler, neue Stücke, neue Adressen kennenlernen, sondern auch andere Wege durch die Stadt, die das Theater weist – frei von Barrieren, die manchmal doch noch tief in den Gewohnheiten verankert sind. Fünfzig Orte laden ein, das gibt es auf der Welt kein zweites Mal.

In einem anderen Format hat das Hebbel am Ufer die Netzwerk-Idee der langen Theaternacht bereits mit großem Erfolg praktiziert. Bei den Kiez-Spaziergängen der „X Wohnungen“ gibt man auf engstem Raum auf große Erkundungstour. Im HAU verbindet sich das, was man früher Avantgarde nannte, mit einem ausgeprägten Gefühl für die urbane Umgebung. Aber ich möchte noch zwei andere wichtige Phänomene erwähnen, die einen gewissen Neuigkeitswert haben, die nur in einer Großstadt wie Berlin und von allen großen Städten vielleicht auch nur in Berlin haben entstehen können.

Das eine ist die Rückkehr des Boulevard und des Volkstheaters. Es ist bitter, dass im Theater und in der Komödie am Kurfürstendamm die Lichter verlöschen sollen, weil die Bühnen den Investoren im Weg sind. Anderswo aber tun sich neue Räume auf, besinnt man sich auf die lange verpönte Kunst der Unterhaltung: im wiederbelebten Kleinen Theater am Südwestkorso, in Neukölln und im Prater, wo die Volksbühne während der Renovierung ihres Haupthauses spielt und sich mal wieder neu aufstellt – mit Komödie! Das andere Phänomen ist der Bedeutungsgewinn des Musiktheaters. Seit einiger Zeit geht man wieder oder überhaupt einmal in die Oper. Schauspiel und Oper haben sich ästhetisch angenähert, konkurrieren sogar miteinander, wie man es so noch nicht erlebt hat.

Und der Tanz ist keine „dritte Sparte“ und auch keine reine Off-Szenen-Erscheinung mehr. „Lange Nacht der Opern und Theater und des Tanzes“, so müsste es eigentlich heißen – und natürlich auch des Kinder- und Jugendtheaters, der Performance und Comedy, der Show ... . Alle Genres sind vertreten.

Berlins Theater sind in Bewegung. Am Deutschen Theater wartet man auf den neuen Intendanten Ulrich Khuon, die Staatsoper bereitet sich auf ihren Umzug nach Charlottenburg ins Schiller Theater vor, das Grips Theater hat eine zweite Spielstätte in Mitte eröffnet, die Volksbühne genießt im Ausweichquartier in Prenzlauer Berg die Vorzüge des Biergartens, und am Maxim Gorki Theater herrscht ständig eine Atmosphäre von Labor, von Umzugskisten und Durchreise. Die Besucher der „Langen Nacht“ werden diese produktive Unruhe spüren, auf den Boulevards, in den Seitenstraßen und den Hinterhöfen, in den Bussen der Theaternacht. Was für ein Kulturbetriebsausflug!

Was für eine Theaterzeit! Am 1. Mai eröffnet das Berliner Theatertreffen 2009. Deutsches Theater, Schaubühne und das Berliner Staatsballett haben für Ende April große Premieren angesetzt. Anfang des Monats präsentierten die drei Opernhäuser aufwändige Neuinszenierungen. Lange Nächte, bald jeden Tag. Aber die längste Lange Nacht erlebt am 25. April ihre Premiere.

Insgesamt 20 000 Plätze warten darauf, eingenommen zu werden. Wenn man den Bewegungsdrang und die Theaterlust der Berliner ein wenig kennt, könnten dies am Ende viel zu wenig sein.

Rüdiger Schaper

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