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Musiktheater: Schnarche Noah

„Riesenbutzbach“ bei den Wiener Festwochen: Christoph Marthalers Abgesang aufs Kapital läst den gesättigten Mittelstand auf Schreibtischen posieren und sich langbeinig in Betten aalen.

Sechs Frauen seufzen, warten, gähnen in die Stille. Sie lehnen kokett an abgetakelten Büromöbeln, posieren auf Schreibtischen oder aalen sich langbeinig in abgestandenen Betten. "Wenn die Transzendenz einmal was von mir will, ich kann mich nicht um sie kümmern“, raunt es aus Bettina Stuckys Konsumsucherin. "Vom Vögeln in den Mund leben“ – die Spruchsammlung der kürzlich verstorbenen österreichischen Dichterin Elfriede Gerstl tropft wie Honig aus den Mündern dieser farblosen Mittelstands-Trägen. "Es ist alles wie immer“, bemerkt das altkluge Mädchen der Olivia Grigolli, nur dass man in Zeiten der Finanzkrise etwas weniger oft zum Friseur geht.

Es ist der Ennui des gesättigten Mittelstandes, den Christoph Marthaler und seine Bühnenbildnerin Anna Viebrock in ihrem neuen Projekt "Riesenbutzbach. Eine Dauerkolonie“ zum Auftakt der diesjährigen Wiener Festwochen beschwören. Ein fein gesponnenes Geflecht melancholischen Musiktheaters aus Schubert-, Mahler- und Wiener Liedern, die im mehrstimmigen Chorsatz wie ferne Erinnerungen aus einem hochmusikalischen, 15-köpfigen Ensemble strömen. Die spärlichen, fragmentarischen Texte zum Ende des Neoliberalismus in der Finanzkrise erscheinen in Marthalers theatralischem Liederabend eher wie Fremdkörper. Besser konterkariert das kollektiv gesungene "Staying alive“ der Bee Gees diesen Abgesang.

"Institut für Gärungsgewerbe“ steht in großen, in Beton gegossenen Lettern über Anna Viebrocks Bühne in der Halle 1 der Wiener Rosenhügel-Filmstudios: eine Mischung aus Großbüro, Sparkassenfiliale und Möbellager, dessen Inventar innerhalb zweier Stunden ebenso verschwindet wie der abgetragene Glanz aus den Kostümen Sarah Schitteks. Eine verrückte Welt im gelähmten Wohlstandsdelirium, überwacht durch den hinter einem Glasverbau sitzenden Gesangskontrolleur Christoph Homberger, ermahnt durch den Bankangestellten Bernhard Landaus mit Kants "kategorischem Imperativ“. War Butzbach einst der Entstehungsort von Georg Büchners sozialrevolutionärer Flugschrift "Der Hessische Landbote“, so zeigt dieses "Riesenbutzbach“ auch in Anspielung auf Thomas Bernhards "Theatermacher“ nur noch seine kleingeistig-provinziell verzerrte Fratze. Alle Bewegung findet nur noch innerpsychisch statt, versinnbildlicht durch einen fabrikhohen Raum mit blassrosa Blümchentapete, in dem sich das Außen nach innen stülpt. Drei Garagen werden zu Behausungen verwalteter Ausgesperrter in einem gesellschaftlich auf der Kippe stehenden Provisorium.

Dieser surreal-realitätsnahe Irrwitz lässt die Wirklichkeit am Ende umso schärfer erscheinen. In einem endlose Mode-Defilée präsentiert sich das Ensemble in zu kurzen Pullovern oder Jogginganzügen als entseelte Hartz-IV-Kolonie, die nach einem stummen Schrei schließlich vom Gesangskontrolleur in die Garagen gesperrt wird, um dort wehmütig-leise Beethovens "O welche Lust“ weiterzusummen. Erst der Applaus des Publikums bereitet einem Abend das Ende, der mit einem kunstvoll ziselierten Geflecht musikalischer Verweise den Weg unserer Gesellschaft von der mentalen Leere bis zum ökonomischen Zusammenbruch atmosphärisch-sinnlich vermittelt. So manch banale textliche Eindeutigkeit oder diskursives Turbogeplapper à la René Pollesch bringen Marthaler allerdings oft um die Früchte seiner Arbeit. Die Stille, als Lars Rudolph beim Trompetenspiel die Luft ausgeht, trifft hingegen als beredtes Schweigen die Wunde des Kapitalismus.

Christina Kaindl-Hönig

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