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Oper: Das Aufblühen einer Seele

Triumphale Wiederentdeckung: Tschaikowskys "Jolanthe" mit Anna Netrebko in Baden-Baden.

Es war einmal eine wunderschöne, blinde Prinzessin namens Jolanthe. Eigentlich war Jolanthe ganz zufrieden, zumal sie gar nicht wusste, dass sie blind war. Doch als sie sich in einen edlen Ritter verliebte, da wollte sie natürlich sehen. Und siehe, da kam ein weiser Arzt aus dem Morgenlande, und weil Jolanthes Wille so stark war, konnte er sie schnell gesund machen. Und den Ritter bekam sie dann auch.

Geben wir es zu: Die Geschichte, die Tschaikowsky für seine letzte Oper aussuchte, ist auf den ersten Blick hanebüchen. Und die Tatsache, dass diese „Jolanthe“ nur alle Jubeljahre einmal auf einem Spielplan auftaucht, dürfte vor allem daran liegen, dass dieses Märchenglück selbst für die Gutwilligsten zu schwer zu fassen ist. Außerdem dürfte Blindsein für eine Diva noch viel schwerer zu spielen sein als die Schwindsucht, an der die Opernheldinnen des 19. Jahrhunderts normalerweise dahinsiechen.

Wenn Anna Netrebko auf der Bühne des Festspielhauses Baden-Baden mit einem wackligen Schritt hinaus aus ihrer grauen Kammer ins Freie tritt, ist das allerdings in keinem Augenblick peinlich: Mit jeder Bewegung und mit jedem Ton scheint Netrebko hier quasi im Zeitraffer jenen Prozess zu vollziehen, um den es hinter der bunten Märchenfassade geht. Es ist das Aufblühen einer Seele, das man hier in den Wundertönen von Netrebkos Sopran erlebt: Zu Beginn der Oper ihr verknosptes, die Gefühle quasi blind abtastendes Arioso, dann, im Duett Jolanthes mit ihrem Ritter, die Farben eines Menschen, der gerade entdeckt, dass ein ganzes Leben vor ihm liegt: Töne, die leuchten, ja von innen her glühen, die in der Mühelosigkeit, mit der sie sich über ein ganzes Ensemble legen, bis an den Horizont zu reichen scheinen.

Das ist große Oper großartig gesungen. Kaum mag man glauben, dass diese Eröffnungspremiere der Sommerfestspiele in Baden-Baden zugleich Netrebkos Rollendebüt ist – so traumwandlerisch sicher bewältigt sie die Partie. Und nichts ist hier von der Restkühle und stilistischen Distanz spürbar, die die berühmteste Operndiva der Gegenwart oft von den Heldinnen der italienischen und französischen Oper trennt.

Dass hier die glänzende Rehabilitation von Tschaikowskys meistbelächelter Oper gelingt, liegt freilich nicht nur an Netrebko. Die leider nur in Baden-Baden gezeigte Produktion zeigt, was Festspiele eigentlich sein können: dass hier wirklich einmal die besten Kräfte zusammenkommen, um ohne die Kompromisse des Repertoirebetriebs einem Stück zu seinem Recht zu verhelfen und es so gut aussehen und klingen zu lassen wie nur irgend möglich. Die besten, das sind in diesem Fall Baden-Baden-Stammgast Valery Gergiev und sein Petersburger Marinsky-Theater: das Orchester, das einen Teppich aus Samt und Seide ausrollt, mit schnörkeligen Holzbläser-Soli, die dastehn wie die Schmuckmajuskeln einer mittelalterlichen Handschrift. Der Chor für die jubelgetränkte Schlussapotheose. Und das Ensemble, aus dem der kernige Bariton von Alexander Markov herausragt.

Der Beste für diese Oper dürfte auch Piotr Beczala sein, der als edler Ritter Graf Vaudemont den ursprünglich vorgesehenen Rolando Villazón ersetzt: mit silbernem Jussi-Björling-Timbre, edel und glanzvoll in der Höhe, zugleich mit dem Hauch von Melancholie, der eine Stimme erst zum Abbild eines Menschen werden lässt. Der Beste ist in diesem Fall aber auch der polnische Regisseur Mariusz Trelinski, der noch vor einigen Jahren mit Tschaikowskys „Pique Dame“ an der Berliner Lindenoper sang- und klanglos gescheitert war. Seine „Jolanthe“ ist von einer anderen Güteklasse: psychologisch genau genug, um der Musik einen Platz im wirklichen Leben zu geben, aber zugleich auch so geheimnisvoll, dass die Aura des Märchenhaften erhalten bleibt.

Die Blindheit etwa wird zwar durchaus gespielt, zugleich aber lässt Trelinski keinen Zweifel daran, dass sie nur ein Symbol für den psychischen Zustand Jolanthes ist. Wie eine Trophäe hält der greise König seine Tochter in einem grauen Jagdzimmer, nimmt ihr mit diktatorischer Fürsorge jede Möglichkeit zur Entfaltung. Und der Prince Charming, der ihr Herz erobert, kommt nicht mit Waffen, sondern ganz unmartialisch mit einem Paar Skiern daher.

Mit knapp anderthalb Stunden Spieldauer füllt Tschaikowskys Einakter einen Opernabend nicht ganz – erst recht nicht bei Eintrittspreisen von bis zu 280 Euro. In Baden-Baden wird deshalb eine andere Opernrarität aus dem spätzaristischen Russland, Rachmaninows nahezu zeitgleich entstandener „Aleko“, vorgeschaltet. Dass das melodisch hochprozentige Frühwerk des 19-Jährigen ohne vergleichbaren Erkenntnisgewinn bleibt, braucht man den Beteiligten allerdings nicht anzulasten: In Trelinskis zeitgemäßem Folklore-Update füllen die Marinskys zwischen Containern und Maschendraht souverän die Posen von Liebe, Stolz und Eifersucht, aus denen das zwischen „Carmen“ und „Cavalleria rusticana“ angesiedelte Zigeunerdrama besteht, und der kanadische Bassbariton John Relyea holt aus seinem ruhelosen Titelhelden so viel an Zwiespältigkeit heraus, wie die Musik eben hergibt. Rachmaninow wird schon gewusst haben, warum er nach diesem Versuch keine Oper mehr schrieb.

Jörg Königsdorf

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