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Schaubühne: Iphigenie als Rasenschach

Jossi Wieler inszeniert Goethes "Iphigenie auf Tauris" an der Schaubühne. Man fragt sich: Wann fängt denn nun das Stück an? Da sind die Hälfte der Goethe-Verse fast unbemerkt vorbeigerauscht.

Weshalb man diesen Abend so ratlos verlässt, weiß vielleicht Johann Wolfgang von Goethe. Gegenüber Eckermann sagte er über sein Stück „Iphigenie auf Tauris“, das er am Weimarer Hof ursprünglich zum Kirchgang der Herzogin Luise verfasst hatte: „Es ist reich an inneren Leben, aber arm an äußerem.“ Ein Kammerspiel auf einer Insel also, fünf Figuren, zwei Männerpaare und in der Mitte Iphigenie, Tochter des Agamemnon und der Klytämnestra, vom Vater geopfert, von der Göttin Diana gerettet und als Priesterin auf die Insel Tauris gezaubert, wo sie den barbarischen König Thoas – immer wieder unterbrochen von langen Selbsterkundungsmonologen über das Taumeln zwischen Pflicht und Neigung – Drehung um Drehung das Herz aufschließt, bis er sie und ihren Bruder Orest ziehen lässt, und Iphigenie damit den Familienkreislauf aus Schuld und Rache beendet.

Der Mensch als Mensch und nicht als Opfer der Götter. Freiheit, Wahrheit, Selbstbestimmung. „Verteufelt human“, schrieb Goethe an Schiller. Was die äußere Handlung betrifft, tritt das Stück auf der Stelle – während innerlich die eine Welt krachend zusammenstürzt und eine andere hell erstrahlt.

Bei Jossi Wieler an der Berliner Schaubühne ist von dem inneren Reichtum nicht viel zu spüren – dafür ist äußerlich mächtig was los. Natürlich hat Wieler, sonst einer der stillsten und genauesten Regisseure, dem Text nichts Dramatisches hinzugefügt. Aber er hat die Schauspieler mit albernen Gewändern aus Marotten und Ticks behängt, hinter deren Aufdringlichkeit der Text nahezu verschwindet. Drei Stunden schaut man auf eine große, quadratische Rasenfläche, die Jens Kilian in der Mitte einer edelschwarz verschalten Gruft steil ansteigen lässt, und Burghart Klaußner als Thoas dabei zu, wie er sich unablässig die Anzughose hochwurschtelt oder die Krawatte zurechtzupft oder vulgär in einen Ausfallschritt fällt oder barfuß über die Böschung stolpert, kurz: wie er sich mit der Körpersprache eines windigen und unbeherrschten Vertreters an Judith Engel heranmacht. Die gibt Iphigenie über weite Strecken als naives Mädchen, das sich das babyblaue Kleidchen über die Knie zuppelt, auf flachen, barbiegrellen Schuhen mit trotzigem Schritt und abwesendem Gesichtsausdruck hin und her stapft, immer entrückt, weil immer umgeben von den rührenden, aber harmlosen Gespenstern des Kinderzimmers – statt von den schrecklichen Dämonen einer archaischen Welt.

Oder Thomas Bading als Arkas, Thoas pragmatischer Diener, der Iphigenie dringend rät, das Werben des taurischen Königs zu erhören: Er ist hauptsächlich damit beschäftigt, die Klischeekonturen eines devoten Höflings nachzuzeichnen, zuckt nervös mit den Fingern und streicht superneurotisch den Rasen glatt, um die Halme im nächsten Moment wieder auszureißen. Man staunt über so viel Äußerlichkeits- und Ablenkungsgetue, fragt sich: Wann fängt denn nun das Stück an? Da sind die Hälfte der Goethe-Verse fast unbemerkt vorbeigerauscht.

Die Schauspieler akzentuieren zwar ihre Macken, aber nicht die Konflikte und Metamorphosen. Es gibt einige geschmackvoll hingetupfte und mit Bedeutung aufgeladene Bilder – Judith Engel, verträumt auf der Wiese liegend, während entfernt das Geräusch eines über die Insel hinweg fliegenden Flugzeugs zu hören ist –, gleichzeitig jedoch liegt eine unschlüssige Scheu vor dem Pathos über den Szenen, die die Wendepunkte, auf die alles hinausläuft, nivelliert. Ernst Stötzner, der als todessehnsüchtiger Orest eben noch sterben wollte und nun, mit den Göttern und sich versöhnt, gut gelaunt im Gras sitzt – wie ist das denn passiert? Iphigenie, die eben noch mit ihrem Bruder das Bildnis der Diana klauen wollte und sich nun aufrichtig Thoas offenbart – hat nichts von der Wandlung mitbekommen.

Bei Goethe wünscht Thoas dem Geschwisterpaar „Leb wohl“ und bleibt allein zurück, humanisiert, aber todeinsam. Bei Jossi Wieler stürzt Thoas am Ende von der Bühne und verlässt türenschlagend den Raum, während Iphigenie und Orest sich an den Händen halten – wie Hänsel und Gretel, die aus dem Wald herausgefunden haben. Eine Interpretation! Nur, was hat sie zu bedeuten?

Wieder am 19., 20., 21., 25., 26., 29 und 31. Mai sowie am 1., 2., 3., 24., 26., 27 und 28. Juni.

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