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Staatsballett Berlin: Geister der Luft, Geschöpfe der Lust

Triumph für das Staatsballett Berlin: Angelin Preljocaj choreografiert "Schneewittchen" in Kostümen von Jean-Paul Gaultier.

Von Sandra Luzina

Was für ein grausames Märchen „Schneewittchen“ doch ist! Das dämmert einem bei der umjubelten Ballettpremiere des Staatsballetts Berlin in der Deutschen Oper. Der Choreograf Angelin Preljocaj, einer der Großen in Frankreich, hat die verfolgte Schönheit aus dem Grimm’schen Märchen auf der Bühne zu neuem Leben erweckt. So wie er die Geschichte von der Königstochter erzählt, blickt man einmal mit anderen Augen auf dieses Volksmärchen, in dem die Wunschenergien – auch die verbotenen – ins Kraut schießen.

Angelin Preljocaj gibt dem Ballett ein modernes Bewegungsdesign und vermeidet alles Drollige, er beschwört zugleich den Geist des Romantischen mitsamt seinen dunklen Schatten. Der Märchenwald ist ein unheimlicher Ort, in dem die Ängste lauern. Die Geburt der Königstochter, bei der die „gute“ Mutter stirbt, findet in einem nachtschwarzen Verlies statt – so wie Bettina Thiel das tanzt, bricht es einem fast das Herz. Die Frau hat ihre Schuldigkeit getan und ein Kind geboren; wenn ihr toter Körper von den Vasallen des Königs fortgeschafft wird, ähnelt dies der Szene, wo die Jäger die erlegte Hirschkuh wegschleppen.

Schon in der ersten Szene wird die Fährte für ein rabenschwarzes Familiendrama gelegt. Doch der Choreograf spielt auch mit kindlicher Lust die magischen Elemente des Märchens aus – und vertraut dabei ganz auf die Zauberkraft des Theaters. Was Preljocaj und sein Bühnenbildner Thierry Leproust sich für die sieben Zwerge ausgedacht haben, ist fantastisch. Die emsigen Elementargeister kriechen in Bergarbeiterkluft aus den Spalten einer monumentalen Felswand, an Seilen hängend vollführen sie ein lustiges Luftballett mit Vogelflugformation. Dazu erklingt der verfremdete Kanon „Frère Jacques“ aus Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 1. Nichts für Puristen: Mahler-Werke werden hier mit elektronischen Klängen kombiniert.

„Haut so weiß wie Schnee, Lippen so rot wie Blut, Haare so schwarz wie Ebenholz“ – die wunderschöne Elisa Carrillo Cabrera tanzt Schneewittchen. Die Mexikanerin bildet mit Leonard Jakovina als schmuckem Prinzen das neue Traumpaar des Staatsballetts. Cabrera bezaubert mit ihrer natürlichen Anmut. Sie macht aus der Märchenfigur kein ätherisches Traumgeschöpf, ihr Schneewittchen ist aus Fleisch und Blut, verströmt eine unschuldige Sinnlichkeit: Bei Preljocaj ist es keineswegs so, dass erst der scheinbar tote Körper des Mädchens das Begehren des Prinzen weckt.

Und die böse Stiefmutter kann nur eine tanzen: Beatrice Knop, die Spezialistin für gefährliche Frauen. Sie überzeichnet die eitle Rächerin herrlich als Bitch und aufgetakeltes Showgirl. Die Szenen, in denen sie den Spiegel befragt, sind die Schlüsselmomente für die tiefenpsychologische Deutung des Märchens als Narzissmus-Drama. Unserer Zeit attestiert Preljocaj sogar einen ausgewachsenen „Schneewittchen“-Komplex. Da die Frauen heute mit vierzig oder fünfzig oft noch attraktiv seien, habe sich auch die Konkurrenz zu den Töchtern verschärft.

Beatrice Knop trägt jedenfalls schärfste Fummel, Lackstiefel und schwarzes Lederkorsett. Einen besonderen Reiz dieses „Schneewittchen“ stellen die extravaganten Kostüme von Jean- Paul Gaultier dar, die mit ihren raffinierten Schnittmustern die unterschiedlichen Bewegungsqualitäten unterstreichen. Preljocaj gelingt der Spagat zwischen dem Schwärmerisch-Romantischen und dem vehement Physischen. Schneewittchens Bewegungen entfalten sich wunderbar organisch, oft in Wellen. Die Choreografie betont den Boden, zeigt Körper von Gewicht. Die Pas de deux mit dem Prinzen sind von hypnotischer Sinnlichkeit. Preljocaj erzählt ganz aus dem Körper – das macht seine Ballettversion so überzeugend, zugleich ist sein „Schneewittchen“ visuell bestrickend.

Mit „Blanche Neige“, interpretiert von seiner eigenen Compagnie, hat Preljocaj 2008 schon in Frankreich für Aufsehen gesorgt. Die Übernahme und Einstudierung mit dem Staatsballett Berlin geriet nun zum Triumph. Der Choreograf und die Tänzer wurden vom Publikum in der Deutschen Oper enthusiastisch gefeiert.

Staatsballett in der Deutschen Oper Berlin, wieder am 29. April, 6., 17., 19., 22. Mai., 12. und 13. Juni

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