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"Taking Care of Baby" in den Kammerspielen: Gibt es Wahrheit und wenn ja, wie viele?

Sascha Hawemann bringt Dennis Kellys "Taking Care of Baby" als deutsche Erstaufführung in die Kammerspiele des Deutschen Theaters.

Donna McAuliffe kommt gerade aus dem Untersuchungsgefängnis. Aus Mangel an Beweisen wurde sie freigesprochen. Die Zweifel allerdings bleiben in Dennis Kellys Stück „Taking Care of Baby“: Frau McAuliffe hat binnen Kurzem unter rätselhaften Umständen zwei Kinder verloren. Eines erstickte, beim anderen wurde plötzlicher Kindstod diagnostiziert.

Und wie in solchen Fällen üblich, treten lauter selbst ernannte Wahrheitsfanatiker auf den Plan, um ihren Karriere-Teil vom Fall McAuliffe abzustauben: der exklusivinterviewgierige Journalist, Donnas harte Polit-Mutter Lynn, der Psychiater Dr. Millard, der eine entlastende Bewusstseinsstörung entdeckt zu haben glaubt, und schließlich der Autor Kelly, der den Fall fürs boomende Doku-Theater aufbereiten will.

Eine konfliktträchtige Gemengelage also – der Sascha Hawemanns deutsche Erstaufführung in den Kammerspielen des Deutschen Theaters allerdings jede Mehrdeutigkeit austreibt. Meike Droste, die als Donna McAuliffe nicht nur ein sackartiges Strickkleid unter dem Anorak, sondern auch eine Pappkiste mit sich herumträgt, hat man schon als Opfer einer karrieregeilen Gesellschaft identifiziert, bevor sie überhaupt den Mund öffnen kann. Gegen Opfer-Anoraks, lernen wir, sind selbst erstklassige Schauspielerinnen machtlos.

Auch dem Psychologen Dr. Millard (Peter Moltzen) sieht man seinen dominanten Charakterzug – in diesem Fall handelt es sich um Scharlatanerie – bereits am kanarienvogelorangen Rollkragenpullover an. Die Energie für die Interviewszene, in der er um seinen Designer-Ledersessel herumspringt und den Kollegen von der schreibenden Zunft, dem er doch eigentlich seine Krankheitsentdeckung verkaufen will, niederbrüllt, hätte er sich sparen können. Barbara Schnitzler als Donnas Mutter Lynn hat mit dem grauen Businessanzug ebenfalls ihr Klischee für den Abend weg. Der Lokalpolitikerin im Wahlkampf ist jeder Fernsehauftritt recht – egal, ob es um Arbeitsplätze oder um das Schicksal ihrer Tochter geht. Wir sehen sogleich in der angeblich fürsorglichen Mutter die eiskalte Karrieristin, die buchstäblich über Leichen geht und bestens zum dick auftragenden Partei-Kumpel Jim (Michael Schweighöfer) passt. Bis auf Donnas Ehemann Martin (Moritz Grove), der sich dem Instrumentalisierungsspiel zunächst entziehen will, darf keine Figur Ambivalenz zeigen. Das Potenzial des Kelly-Stückes wird so verschenkt.

Zwar führt „Taking Care of Baby“ vor, wie jeder sich seine zweckgebundene Wahrheit zum Geschehen konstruiert. Aber dass dabei egoistische Interessen verfolgt werden, ist bei Kelly weniger Strategie als Fakt. Erstens entstehen Perspektiven auf Geschehnisse nicht im luftleeren Raum. Zweitens schert sich die Wahrheit oder das, was wir für sie halten, nicht um Moral. Und drittens gilt es zu Recht als Binsenweisheit, dass uns nichts anderes übrig bleibt, als uns unser eigenes Bild von Wahrheit zurechtzuzimmern, da wir immer nur begrenzter Informationen habhaft werden können.

Die Strategie Kellys, der aus der Kritikerumfrage der Fachzeitschrift „Theater heute“ als ausländischer Dramatiker des Jahres 2009 hervorging, besteht darin, die sogenannte Wahrheit immer weiter aufzulösen, temporäre Gewissheiten also immer fragwürdiger erscheinen zu lassen. Dabei schließt der Autor sein eigenes Untersuchungsmedium, das Theater, bewusst mit ein und spricht sich selbst vom Vorwurf des Karrierismus genauso wenig frei wie den Journalisten, die Lokalpolitikerin oder den Psychiater.

„Taking Care of Baby“ ist damit vor allem ein Theaterstück, das sich selbst problematisiert. In Berlin dagegen führt Hawemann zwar mit seinem Bühnen- und Kostümbildner Alexander Wolf die Relativität der Wahrheit mittels Videowänden und aufgebockter Kameras vor und scheint sich bestens auszukennen, wie gewissenlos Mediziner ticken oder wie Politikerinnen aussehen, die mit ihren Wählern auch gleich noch ihre Kinder verraten. Aber seine eigenen Gewissheiten hinterfragt dieses Theater nie.

DT-Kammerspiele, wieder am 23. und 30. Januar, 20 Uhr

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