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Theater: Mysterien des Fleisches

Hebbel am Ufer: Alain Platel radikalisiert Bachs Matthäuspassion zum ekstatischen Leidensspektakel.

Von Sandra Luzina

Alain Platel gilt fast schon als eine Art Theaterheiliger. Seine Inszenierungen für die berühmten Les Ballets C. de la B. sind im Grunde Passionsspiele. Wie er in dem legendären „Iets op Bach” von 1998 das Sakrale und das Profane hart aufeinanderstoßen ließ, wie er die erhebende Bach-Musik und das Unterschichten-Drama zusammenzwang, war für viele eine Offenbarung. So manchem Bach-Bewunderer standen damals allerdings die Haare zu Berge. Was den belgischen Choreografen seit seinen Anfängen bewegt, ist nicht die Frage der Religion noch gar deren angebliche Rückkehr. Ihn treibt der unerschütterliche Glaube an den Menschen an. In der neuen Produktion „Pitié!“, die im Hebbel am Ufer zu sehen ist, formuliert er sein Credo auf handgreifliche, fast schockierend rabiate Weise: Das „Erbarme dich“ aus Bachs Matthäuspassion wird zum Leitmotiv einer getanzten Messe, die ganz unfromm und unkeusch daherkommt.

Hat Platel seinen musikalischen Schutzpatron Bach früher noch unangetastet gelassen, so musste Bach diesmal dran glauben. Von der Matthäuspassion blieben nur wenige Passagen übrig, der Komponist Fabrizio Cassol hat sie bearbeitet und mit Ethno-Musik durchsetzt. Diese World Music ist oft gefällig. Dass sich im Kern der Passionsgeschichte eine universelle Erfahrung verbirgt, diese Botschaft wird vor allem von den großartigen Tänzern und Sängern beglaubigt.

Der junge kongolesische Countertenor Serge Kakudji mit seiner reinen Engelsstimme verkörpert den Erlöser im bunten Jesus-T-Shirt. Der Sänger-Darsteller wechselt von der naiven religiösen Inbrunst zu afrikanischer Ausgelassenheit, die sich in hüftbetonten Tänzen manifestiert. Wenn er – sekundiert von der schwarzen Sopranistin Melissa Givens und der Mezzosopranistin Maibeth Diggle – seine Schmerzensmusik anstimmt, umringen ihn die Tänzer wie eine ekstatische Gemeinde. Es sind die Darsteller aus der Vorgängerproduktion „vspr“, Künstler aus unterschiedlichen Kulturen, die sich zu einer verschworenen Glaubensgemeinschaft zusammengefunden haben.

Wenn sie in ihren billigen Klamotten den Choral „O Haupt aus Blut und Wunden“ anstimmen, ist das ungemein ergreifend. Doch alles Strenge, Protestantische wurde Bach gründlich ausgetrieben. „Pitié” ist expressives, exzessives Körpertheater – die Tänzer sind extrem Berührbare, und der Choreograf hat sich den Mysterien des Fleisches verschrieben. Die Akteure wirken wie Büßer im Hemdchen – welches sie sich sogleich vom Leibe reißen. Wie besessen entblößen sich die Platel-Tänzer, um sich wütend zu vereinigen. Die Erlösungsbedürftigen suchen ihr Heil in der sexuellen Ekstase, deren Nähe zur religiösen Verzückung der Choreograf ja schon in „vspr“ demonstrierte. Die Paare (Mann-Frau oder Mann-Mann und Frau-Frau) ziehen sich brutal an der Brusthaut, sie verkrallen sich voller Verzweiflung ineinander. Es ist, als wolle Alain Platel sich hineinbohren in die fremden Leiber – den Finger immer auf der Wunde.

Allesamt Beladene, laden die Tänzer sich mit lautem Ächzen das Gewicht des anderen auf. „Pitié!“ ist zwar nur bedingt von christlicher Ikonografie inspiriert, aber die vier Pietàs sind eines der stärksten Bilder. Platel will das Mit-Leiden der Gottesmutter mit ihrem gequälten Sohn in den Mittelpunkt rücken, und in dieser Szene sind es also die Frauen, die sich mit Leib und Seele der Compassion hingeben. Der Choreograf entrückt seinen Marien nicht; welch immense Last dieses Opfer bedeutet, wird spürbar.

Die Tänzer verausgaben sich bis zur völligen Erschöpfung. Sie tanzen sich in Raserei, toben und taumeln, schreien und flehen. Manchmal ist es freilich irritierend, wenn die Besessenen noch akrobatische Kunststücke vollführen, das Thema Wahn und spirituelles Erleben wird überstrapaziert.

Die Streitaxt, die die tolle israelische Tänzerin Lisi Estarás auf die Bühne schleppt, wandert von Hand zu Hand. Gegen Ende wird sie von der resoluten Melissa Givens krachend in den Tisch geschlagen, als das musikalische Opfer vollbracht ist. Das Geschehen verfinstert sich, die Tänzer reißt es auseinander. Aus einsamer Verzweiflung formiert sich wieder eine Gemeinde. Am Ende liegen die Leidgeprüften sich in den Armen. Lauter Erweckte.

„Erbarmen ist der Radikalismus unserer Zeit“, so zitiert das Programmheft den Dalai Lama. Genau in diesem Sinne ist Alain Platel ein radikaler Künstler.

Er will uns die Lektion des Schmerzes lehren – und das gelingt ihm in „Pitié“ auf äußert berührende Weise. Auch wenn Platels Ruf nach Erbarmen bisweilen ziemlich penetrant daherkommt: In Berlin ist seine Botschaft angekommen – das zeigt der große Jubel des Publikums.

Wieder am 6. Juni, 19.30 Uhr im HAU 1

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